Bildmontage - Weizenfeld, auf das die tunesische Flagge projiziert wurde

Enge Verflechtungen: Tunesiens Landwirtschaft zu modernisieren, nützt auch der Europäischen Union

Europa profitiert, wenn seine südlichen Nachbarn wie Tunesien sich selbstständig gegen Krisen wappnen können. Weil ein bedeutender Teil der Getreideeinfuhren aus der Ukraine kommt, wird die Nahrungsmittelbeschaffung für Tunesien wegen des Krieges teurer und unsicherer. Umso wichtiger ist es, den Agrarsektor in diesem wirtschaftlich gebeutelten und politisch instabilen Staat zu stärken. Die EU kann über ihre engen ökonomischen Verflechtungen zur Stabilisierung der schwierigen Lage beitragen.

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Christian Hanelt
Senior Expert Europe, Neighbourhood and the Middle East
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Markus Overdiek
Project Manager

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Hitze und extreme Trockenheit lassen im Sommer 2022 Wälder und Felder in vielen Regionen Europas und des Mittelmeerraums brennen. Gleichzeitig verringert und verteuert der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine das Angebot an Nahrungsmitteln auf dem Weltmarkt. Tunesien gehört zu denjenigen Ländern, die besonders stark von Nahrungsmittelimporten aus der Ukraine abhängig sind. Gut die Hälfte der tunesischen Importe von Mais und Weizen kommen aus der Ukraine, wie die Studie Ukraine’s Role in Global Food Supply der ukrainischen Ökonomin Veronika Movchan im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigen konnte. Gleichzeitig ist Tunesien sehr stark vom Export von Olivenöl abhängig. Diese Spezialisierung hat zwar wirtschaftliches Gewicht, macht die tunesische Landwirtschaft aber auch besonders verwundbar.

Zu dieser doppelten Krisenanfälligkeit kommt Tunesiens anhaltend schwierige gesamtwirtschaftliche Situation hinzu. „Für Tunesien prallen Faktoren wie permanente Leistungsbilanzdefizite und hohe Inflationsraten auf ein weltweit unsicheres makroökonomisches Umfeld. Entsprechend eingeschränkt ist der Handlungsspielraum für das Land“, erläutert Markus Overdiek, Co-Autor der Studie zur Ernährungssicherheit in Tunesien und Wirtschaftsexperte der Bertelsmann Stiftung. Umso wichtiger ist es, bestehende Optionen zur Steigerung der Resilienz effektiv zu nutzen. Der EU kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu. Durch eine positive Gestaltung der engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit ihren Nachbarschaftsstaaten wie Tunesien können politische und gesellschaftliche Stabilität gestärkt werden.

Der Agrarsektor ist ein wichtiger Hebel in der schwierigen Situation Tunesiens

„Die engen Verflechtungen zeigen deutlich, dass auch die EU davon profitiert, wenn Tunesien wirtschaftlich und sozial gefestigt ist“, erklärt Christian-P. Hanelt, Nahostexperte der Bertelsmann Stiftung. Gut 75 Prozent der tunesischen Exporte gehen in die EU, 50 Prozent der tunesischen Importe kommen aus der EU. Rund eine Million der 12 Millionen Tunesier:innen haben ihre Heimat verlassen, sie leben und arbeiten in Europa. „Deshalb lohnt ein genauer Blick auf die engen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Verbindungen Tunesiens zur Europäischen Union. Und der Agrarsektor ist ein wichtiger Hebel, um die derzeit schwierige Situation in Tunesien bewältigen zu helfen“, sagt Hanelt.

Der Agrarsektor steuert 14 Prozent zum tunesischen Bruttoinlandsprodukt bei, und rund 17 Prozent der Arbeitnehmer:innen sind dort beschäftigt. Stark im Fokus steht die Produktion von Olivenöl. In der vergangenen Dekade wurden in Tunesien im Schnitt gut 197.000 Tonnen Olivenöl jährlich produziert, womit das Land hinter Spanien, Italien und Griechenland auf Rang vier der weltgrößten Olivenöl-Produzenten liegt. Einige tunesische Agrarprodukte wie etwa Olivenöl unterliegen allerdings EU-Handelsbeschränkungen, deshalb können lediglich 56.700 Tonnen des Produkts zollfrei exportiert werden.

„Es gibt viele Agrarprodukte wie Olivenöl, Tomaten oder Datteln, bei denen das Exportpotenzial nicht ausgeschöpft ist“, erklärt Houssem Eddine Chebbi, Professor für Agrarökonomie an der Ecole Supérieure des Sciences Economiques et Commerciales in Tunis. „Für Tunesien gibt es Möglichkeiten, Produktvielfalt und Exportvolumen für den europäischen Markt weiter zu erhöhen."

Folgende Empfehlungen der Experten können europäischen und tunesischen Entscheider:innen helfen, einen resilienteren Agrarsektor in Tunesien voranzubringen:

  • Die 1998 im Handelsabkommen zwischen der EU und Tunesien beschlossenen Zollvereinbarungen müssten an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Wichtig ist, dass die Akteure des tunesischen Agrarsektors die Potenziale analysieren und der EU-Kommission Vorschläge unterbreiten können. Brüssel sollte sich offen zeigen – gerade, was die Erhöhung oder Abschaffung von Quoten angeht. Da dies ein sensibles Thema ist, sollten bei Neu- und Nachverhandlungen nicht nur die EU und die tunesische Regierung am Tisch sitzen, sondern auch die Interessenvertreter:innen der tunesischen Landwirtschaft beteiligt werden.
  • Bei Produkten wie Olivenöl, Tomaten oder Datteln gibt es ein größeres, unausgeschöpftes Exportpotenzial. Gleichzeitig muss aber auf eine hinreichende Diversifizierung bei landwirtschaftlichen Produkten abgezielt werden. Hier ist ein strategisches und datenbasiertes Risikomanagement entscheidend.
  • Tunesien diskutiert angesichts des Klimawandels eine Modernisierung seines Agrarsektors. Dabei spielen ein Upgrade der Infrastruktur, der nachhaltigen Verarbeitung der Produkte und des effizienteren Wasser-Managements eine große Rolle. Diese Aufgaben sollten von EU-Seite finanziell und technisch unterstützt werden. Kleinbauern und die lokale Zivilgesellschaft sollten einbezogen werden, sie können bei der Entwicklung landwirtschaftlicher Räume helfen.
  • Wenn Tunesien wegen des Kriegs gegen die Ukraine ohne eigenes Verschulden weitere Einkaufsengpässe bewältigen muss, sollte die EU kurzfristig finanziell unterstützen. So lassen sich zu große Preissprünge oder Lieferschwierigkeiten abfedern.