Ein Regierungsgebäude in Tunis

Die Rolle der EU in Tunesien und der Kampf um die arabische Vorzeigedemokratie

Seit der Arabellion 2011 hat sich die EU in Tunesien wirtschaftlich und politisch stark engagiert, um dem Geburtsort des Arabischen Frühlings bei der schwierigen Umwandlung von einer Diktatur in eine repräsentative Demokratie zu helfen. Nun steht das tunesische Demokratieexperiment auf dem Prüfstand. Gleichzeitig droht der finanzielle Zusammenbruch Tunesiens. Eine Herausforderung für die Europäische Nachbarschaftspolitik.

Ansprechpartner

Foto Christian Hanelt
Christian Hanelt
Senior Expert Europe, Neighbourhood and the Middle East

Inhalt

Notstandsdekrete heben die Gewaltenteilung auf

Am 25. Juli 2021 hat der tunesische Präsident Kais Saied eigenmächtig von seinen Befugnissen Gebrauch gemacht und den Ausnahmezustand verhängt. Mit großer Zustimmung der Wählerschaft setzte er die Gewaltenteilung außer Kraft, entließ den Premierminister, ernannte eigenmächtig neue Minister, legte die Arbeit des Parlaments auf Eis und löste es wenig später auf, hob die Immunität der Abgeordneten auf und ließ durch Einschaltung der Staatsanwaltschaft verschiedene Parlamentarier und Politiker wegen Korruption anklagen. Außerdem verhängte er Reiseverbote. Im Oktober 2021 ernannte er eine neue Regierung unter seiner Richtlinienkompetenz. Am 13. Dezember 2021 kündigte Präsident Saied zudem eine umfassende Reform der aktuellen Verfassung in mehreren Schritten an. Eine Online-Befragung der Bevölkerung soll Vorschläge sammeln, die von einem vom Präsidenten ernannten Rat gesichtet werden, der dann konkrete Änderungen ausarbeiten soll. Über die finalen Verfassungsänderungen soll am 25. Juli 2022 ein Referendum abgehalten werden. Im Dezember 2022 sollen Parlamentswahlen stattfinden. 

Umstrukturierung oder Abschaffung der repräsentativen Demokratie?

Langsam zeichnet sich die Absicht des Präsidenten ab, dass zwischen parlamentarischer und präsidialer Macht sensibel ausbalancierte Regierungssystem von 2014 in ein „hierarchisches Präsidialsystem" umzuwandeln. Wie und wann diese Transformation erfolgen wird, ist trotz des sogenannten politischen Fahrplans von Präsident Saied noch völlig unklar. Die Szenarien reichen von einem Präsidialsystem mit Gewaltenteilung und Gerichtsbarkeit über die Fortsetzung eines autoritären Regierungsstils bis hin zu einem vom Präsidenten selbst favorisierten System der sogenannten „direkten Volksdemokratie“, in welchem das Volk lokale Räte wählt. Diese wiederum entsenden Abgeordnete in ein nationales Parlament, ohne jedoch die Regierung, die dem Präsidenten unterstellt ist, kontrollieren zu können. Daher mehren sich die Stimmen aus der Zivilgesellschaft, die vor einem Abdriften in den Autoritarismus warnen.

Auch in der internationalen Staatengemeinschaft wird die Sorge über den aktuellen Kurs des Präsidenten größer. Trotz der Möglichkeit einer Online-Beteiligung der Bevölkerung werden außer dem Gewerkschaftsbund (UGTT) keine weiteren Verbände, gesellschaftlichen Gruppen, Zivilgesellschaftsorganisationen oder politischen Parteien in den Verfassungsänderungsprozess einbezogen. 

Eine Wirtschaft in der Krise, Korruption, Staatsdefizit und Corona-Pandemie

Die politische Krise in Tunesien vollzieht sich vor dem Hintergrund massiver wirtschaftlicher, finanzieller, sozialer und gesundheitlicher Probleme. Die negativen Folgen der Covid-19-Pandemie haben die strukturellen Herausforderungen alarmierend verschärft. Das Staatsdefizit ist enorm. Die Schuldenquote wird für das Jahr 2021 auf rund 90,2 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) geschätzt. Die Sozialversicherungsfonds und die staatlichen Unternehmen arbeiten defizitär. Die öffentlichen Haushalte brauchen Finanzzuschüsse, im Budget für 2022 sind nach Angaben aus dem Start-up-Spektrum magere 3 % für Investitionen vorgesehen. 

Die Einnahmen ganzer Wirtschaftszweige wie dem Tourismus sind rückläufig. Das BIP bricht 2020 um fast 9 % ein. Die Arbeitslosigkeit steigt im dritten Quartal 2021 auf mehr als 18 % im formellen Sektor und auf fast 50 % im informellen Sektor. Die Korruption ist weit verbreitet und die illegale Migration nach Italien nimmt zu. Im Jahr 2020 verließen 13.000 Menschen das Land, fünfmal mehr als 2019, und im Jahr 2021 sind mehr als 15.500 Menschen Richtung Italien ausgewandert.

Darüber hinaus hat die Corona-Pandemie Tunesien im Sommer 2021 so schwer getroffen, dass tausende Infizierte starben und die Krankenhäuser die Bedürftigen nicht mehr aufnehmen konnten. Glücklicherweise haben die EU und 13 Mitgliedstaaten seit August 2021 Impfstoffe und medizinisches Material an die Krankenhäuser geliefert. Sogar Rumänien hat ein Expertenteam entsandt. Auch wenn sich die Corona-Lage seit September 2021 entspannt hat, benötigen die Krankenhäuser weiterhin kontinuierliche technische und personelle Unterstützung. 

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie werden auch in Zukunft zu spüren sein. Da das Ausbleiben der Touristen zu einer langfristigen Verschlechterung wichtiger Infrastrukturen geführt hat, wird das volle Ausmaß der Spätfolgen erst in den kommenden Jahren sichtbar werden. 

EU und Tunesien: starke gegenseitige Abhängigkeit, aber wenig Einfluss?

Der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen der Europäischen Union und Tunesien hat in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen. Die EU ist für 50 % der tunesischen Importe und 70 % der Exporte des Landes verantwortlich. Die EU ist der mit Abstand größte Geber bei allen Entwicklungshilfeprogrammen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik und durch direkte Haushaltshilfe. Das europäische Engagement war auch von dem Wunsch geleitet, die Wiege der arabischen Revolution in der schwierigen Übergangsphase von einer Diktatur zu einer repräsentativen Demokratie zu unterstützen.

Nun aber befürchten die Europäer, dass das umfangreiche und intensive Engagement Europas in Tunesien, das sich seit der Jasminrevolution 2011 allein an offizieller europäischer Entwicklungshilfe auf rund 10 Mrd. EUR beläuft (zum Vergleich: die USA 1,2 Mrd. EUR), keine nachhaltigen Ergebnisse bei der Förderung von Demokratie, Marktwirtschaft und verantwortungsvoller Staatsführung erwirkt hat.

Hat die EU zu wenig Einfluss ausgeübt, um die fragile Demokratie zu unterstützen? Selbst das für das Funktionieren von Demokratie und Gewaltenteilung so wichtige Verfassungsgericht ist trotz ständigen europäischen Drängens noch nicht eingerichtet worden. Die EU hat sich mit der Auferlegung von Bedingungen zurückgehalten.

Aus heutiger Sicht sind Brüssel und wichtige Mitgliedstaaten viel zu nachsichtig mit der mangelnden Reformbereitschaft vieler tunesischer Entscheidungsträger umgegangen (stagnierender Mittelabfluss für Projekte sowie die langsame und mangelhafte Verwaltung tunesischer Institutionen), weil sie befürchteten, dass das Knüpfen an Bedingungen die Fragilität der einzigen arabischen Demokratie verstärken könnte, und aus Sorge, dass die EU dadurch gegenüber den Golfstaaten, Ägypten und der Türkei an Einfluss verlieren könnte. Diese Sorge scheint sich zu relativieren, da Tunesien – auch wenn Saudi-Arabien und die Emirate Gelder zusichern – dennoch auf IWF-Hilfen angewiesen sein wird.

IWF-Finanzhilfen sind an technische und ökonomische Reformen geknüpft, die das Finanzsystem stärken und das Geschäftsklima verbessern sollen. Die Uneinigkeit auf tunesischer Seite macht es schwierig, offizielle Verhandlungen über ein neues Hilfspaket aufzunehmen.

Bei den tunesischen Entscheidungsträgern hat sich eine Mentalität eingeschlichen, die auf leicht erhältliche Unterstützung setzt und den Reformwillen erlahmen ließ - viele lehnten sich entspannt zurück und genossen die "Demokratisierungsrente". Manager europäischer Projekte berichten zunehmend, dass Tunesien kein Diskussions-, sondern ein Entscheidungs- und Umsetzungsdefizit habe.

Ein alternatives Narrativ sieht einen Teil der Schuld in der Umsetzung der Konditionalität von Wirtschaftshilfen durch die EU. Der Einfluss von finanziellen Anreizen sei überschätzt worden. Eine Mitverantwortung für das Reformprogramm hätte dazu beitragen können, den Willen zur Durchführung von Reformen zu stärken. Stattdessen fehle durch das vermeintliche Diktat von Bedingungen seitens EU und IWF die Unterstützung und Legitimität der Reformen innerhalb der tunesischen Eliten.

Darüber hinaus ist auch die Verabschiedung und Implementierung wichtiger Gesetze durch das Parteiengezänk im Parlament, die aufgeblähte Verwaltung und die Blockade wichtiger Verbände nicht vorangekommen. Die Enttäuschung über den ausbleibenden Wohlstand trotz Demokratisierung und das unzureichende Pandemiemanagement der Regierung hat die Ernüchterung der Wähler über Parlament und Parteien verstärkt und zu einer starken Zustimmung zu den autoritären Maßnahmen von Präsident Kais Saied seit dem 25. Juli 2021 geführt.

Was kann die EU tun? Solidarität mit den Tunesiern!

In diesem Klima ist es für die EU schwierig zu fordern - wie sie es seit ihrer Erklärung vom 27. Juli 2021 getan hat -, dass der Präsident das Parlament wieder einsetze, zumal Präsident Kais Saied argumentiert, er wisse, dass das Volk hinter seinen Entscheidungen stehe und dass das Parlament und die Parteien die Schuld an der misslichen Lage trügen. Im Januar 2022 hat Präsident Saied für Dezember 2022 Parlamentsneuwahlen angekündigt.

Am 9. und 10. September traf sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell mit Präsident Kais Saied und Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft in Tunis, um sich ein Bild von der politischen und wirtschaftlichen Krise zu machen.

Borrell nutzte seinen Besuch, um die europäische Solidarität mit den Tunesiern bei der Bewältigung der derzeitigen kritischen Situation zum Ausdruck zu bringen und verschiedene Meinungen zu diesem Thema zu hören. Darüber hinaus diskutierte er über mögliche Beiträge zur Rettung der Demokratie, die von den EU-Institutionen in Brüssel in Betracht gezogen werden könnten.

Demokratische Regierungsführung und effiziente Verwaltung miteinander in Einklang bringen

Die große Herausforderung besteht darin, eine demokratische Haltung des tunesischen Staates und seiner Gesellschaft mit einer effektiven, bürgernahen Regierungsführung, Verwaltung und Wirtschaft in Einklang zu bringen, die die Korruption sichtbar eindämmt. Es gibt mehrere Möglichkeiten für die EU, diesen Weg zu unterstützen, ohne extern bevormundend zu wirken:

Europäische Prinzipien müssen dem tunesischen Präsidenten und den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sensibel vermittelt werden: die Wahrung demokratischer Errungenschaften, in denen Bürger- und Menschenrechte eine zentrale Rolle spielen, demokratische Rechtsstaatlichkeit sowie der Aufbau einer funktionierenden Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Legislative und Regierung.

Änderungen im Verfassungssystem sollten nur im Rahmen der jetzigen Verfassung und im Konsens mit den Parteien und Zivilgesellschaftsorganisationen vereinbart und umgesetzt werden, fordert unter anderem eine Resolution des Europäischen Parlamentes vom 20. Oktober 2021. Hiervon hat sich Präsident Kais Saied bereits Ende September 2021 distanziert. Er setzt auf die „direkte Kommunikation mit dem Volk“ und startete dazu am 15. Januar 2022 eine onlinegestützte Befragung, an der alle Tunesier:innen im In- und Ausland teilnehmen können. Damit scheint er die intermediären und repräsentativen Organe wie NGOs und Parteien bei der politischen Umgestaltung des Regierungssystems umgehen zu wollen.

Ende September 2021 ernannte er zudem eine Premierministerin, was eine der Forderungen der EU war. Kais Saied - von Haus aus Juraprofessor - betont immer wieder die Bedeutung von Recht und Gesetz. Daher könnten ihm die Europäer anbieten, ihn bei der Entwicklung eines rechtsstaatlichen Systems und der Einrichtung eines Verfassungsgerichts zu unterstützen - wichtige Instrumente zur Bekämpfung von Korruption, zur Verbesserung der demokratischen Staatsführung und zur Erleichterung von Investitionen.

Diplomatische Offensive

Mit konzertierten Schritten in diese Richtung könnte Josep Borrell die Abstimmung zwischen den EU-Institutionen und den EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich, voranbringen. Paris ist hier sehr aktiv - es hat traditionell den größten Einfluss auf die tunesischen Eliten.

So spendete Frankreich eine beträchtliche Menge an Covid-19-Impfstoffen. Auch war Präsident Emmanuel Macron der erste europäische Politiker, der mit Präsident Kais Saied nach dessen Dekret vom 25. Juli 2021 gesprochen hat. Im November 2022 soll Tunesien darüber hinaus Gastgeber des 18. frankophonen Gipfels sein.

Nichtsdestotrotz gestaltet sich die Kooperation mit Präsident Saied für den Westen schwierig. Er tritt kaum auf internationaler Ebene auf, sucht vielmehr intensiveren Kontakt mit arabischen Herrschern, wie den Präsidenten von Algerien und Ägypten.

Zusammenarbeit mit Großbritannien und den USA

Neben der internen europäischen Abstimmung ist eine enge Koordination mit Großbritannien und den USA am wirkungsvollsten. Washington und London fördern wichtige multilaterale Sicherheitsprojekte in Tunesien.

Eindämmung regionaler Einmischungsversuche

Die USA, das Vereinigte Königreich und die EU können ihren Partnern und Verbündeten in den Golfstaaten, insbesondere den Emiraten, Saudi-Arabien und Katar, sowie Algerien, Ägypten und der Türkei die klare Botschaft übermitteln, sich aus dem politischen Prozess in Tunesien herauszuhalten.

Dabei sollte der Westen akzeptieren, dass der tunesische Präsident im Sinne einer panarabischen Orientierung geneigt sein könnte, nicht mehr allein auf finanzielle Zuwendungen des Westens zu setzen, die an Reformbedingungen geknüpft sind.

Stattdessen könnte er arabische Länder um Einlagen in die tunesische Zentralbank bitten; diese würden keine direkten politischen Forderungen nach einem Rückbau der Demokratie stellen, aber diskret das Herausdrängen der islamischen Ennahda-Partei aus dem Regierungssystem und eine Stärkung der autoritären Präsidialherrschaft befürworten.

Diese Finanzspritzen würden allerdings nicht ausreichen, ein Hilfspaket des IWF mit seinen Reformen zu ersetzen, da der Finanzbedarf des tunesischen Staates zu groß ist. Nach Berechnungen könnte Tunis ab 2023 Schwierigkeiten haben, seine internationalen Kreditrückzahlungsverpflichtungen einzuhalten.

Finanzspritzen und Schuldenschnitte für versprochene Reformen

Die europäischen und internationalen Finanzinstitutionen sollten den Teufelskreis durchbrechen, in dem jedes Jahr mehr Geld in die öffentlichen Haushalte fließt, ohne dass die tunesischen Entscheidungsträger die versprochenen sozialen und wirtschaftlichen Reformen umsetzen.

Die EU kann darauf verweisen, dass sich Präsident Saied bei seinem Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und David Maria Sassoli, dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlamentes, im Juni 2021 in Brüssel selbst zu den Grundsätzen der Zusammenarbeit im Rahmen des Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommens zwischen der EU und Tunesien bekannt hat.

Zudem wird es immer schwieriger, Kredite zu akzeptablen Konditionen für Tunesien zu mobilisieren. Auch der IWF fordert seit Jahren, dass im Gegenzug zu den Finanzhilfen Reformschritte unternommen werden, damit endlich mehr sichere Arbeitsplätze geschaffen und Wirtschaftswachstum erzielt werden kann.

Ein fest vereinbarter Stufenplan aus Finanzspritzen und Schuldenschnitt einerseits und der konkreten Umsetzung von Reformprojekten und demokratischen Prinzipien andererseits kann dazu beitragen, die verabredeten Werte einzuhalten sowie die Initiative der tunesischen Führung zu stärken und die Abwärtsspirale von mehr Ausgaben und weniger Einnahmen zu durchbrechen.

Bei den Reformen geht es nicht um Nachteile für sozial schwache Tunesierinnen und Tunesier, sondern vielmehr um eine größere Unabhängigkeit für die Zentralbank, um die Anbindung an den internationalen digitalen Zahlungsverkehr, zum Beispiel über PayPal, ein faires und transparentes Steuer-, Finanz- und Kreditsystem, ein unabhängiges und korruptionsfreies Justizsystem sowie schnelle und schlankere Behördengänge, die stärker IT-gestützt sind. Diese Reformen helfen kleinen und mittleren Unternehmen sowie Start-ups, ihr Geschäft zu dynamisieren, Arbeitsplätze zu schaffen und die Korruption einzudämmen. Wichtig ist, die EU realistisch bleibt in dem, was sie von Tunesien fordert, und dort ansetzt, wo sie objektiv erwarten kann, Wirkung zu entfalten.

Bewertung der Wechselwirkung von Reformen und Unterstützung

Die Krise in Tunesien wirft auch die Frage nach der Wirksamkeit der Instrumente der Europäischen Nachbarschaftspolitik auf. Es scheint, dass die von der EU finanzierten Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung, Infrastrukturprojekte und Finanztransfers allein nicht die notwendigen sozialen, wirtschaftlichen und administrativen Reformen anstoßen, die erforderlich sind, um ein Land im Sinne einer vollständigen wirtschaftlichen und politischen Teilhabe aller seiner Bürger zu modernisieren. Eine Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen, finanziellen und technologischen Verflechtung zwischen der EU und ihren Nachbarn kann Aufschluss darüber geben, wie diese funktioniert. Zudem sollte untersucht werden, in welchen Bereichen wertvolles Potenzial wegen veralteter Abkommen nicht realisiert werden kann und dadurch Handel und wirtschaftliches Wachstum behindert wird.

Wachstum in Italien, Frankreich und Spanien hilft Tunesien

Wenn die für Tunesien vorgesehenen Mittel nicht abgerufen oder investiert werden können und/oder wichtige demokratische Prinzipien nicht gewahrt oder wiederhergestellt werden, gibt es für die EU-Kommission noch einen indirekten Weg, die Tunesier zu unterstützen und zur Entlastung des tunesischen Arbeitsmarktes beizutragen:

Brüssel könnte diese Mittel - zusätzlich zum EU-Wiederaufbaufonds Corona - in den wirtschaftlichen Aufschwung der südlichen EU-Mitgliedstaaten investieren, insbesondere in Italien, Frankreich und Spanien. Der Aufschwung in diesen südlichen Ländern würde auch der tunesischen Industrie und Landwirtschaft zugutekommen, indem der lokale Arbeitsmarkt entlastet wird und sich die Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitende und Arbeitssuchende sowie für tunesische Saisonarbeiter in Südeuropa erweitern: denn mehr Saisonarbeiter überweisen auch mehr Geld an ihre Familien in der Heimat.

Dieser Beitrag ist in leicht abgewandelter Form auch im BTI-Blog und im GED-Blog erschienen.