Gruppenbild mit tunesischer Delegation, den georgischen und ukrainischen Verhandlungsführerinnen Tamara Kovzeridze und Veronika Movchan sowie den Vertretern der Bertelsmann Stiftung Miriam Kosmehl und Christian-Peter Hanelt
© Saloua Hsoumi Ep Majdoub

, Stakeholder Dialog: Tunesisches DCFTA-Verhandlungsteam zum Erfahrungsaustausch in Georgien

Vor ihrer vierten Verhandlungsrunde im April 2019 in Tunis – über eine Freihandelszone mit der EU bei mehr wirtschaftlicher Integration – reisten zwölf Repräsentanten der tunesischen Verhandlungsteams mit ihrer Leiterin in den Südkaukasus. Das Ziel: mehr über die Erfahrungen Georgiens mit einer EU-Freihandelszone zu erfahren.

Im Mittelpunkt stand zunächst der Prozess der Entscheidungsfindung. Georgische Experten, die noch vor wenigen Jahren ihrerseits verhandelt hatten, präsentierten ihre Wirtschafts- und Tarifpolitik und erklärten ihre Verhandlungsführung und Strategie. Zudem gaben sie eine Übersicht über die Anpassungen, die Georgien seit dem Abschluss der Verträge vornimmt.

Von den drei Ländern Osteuropas, die sich für Handelsbeziehungen mit der EU auf der Basis sog. DCFTAs (tiefer und umfassender Freihandelszonen) entschieden haben, ist Georgien am besten mit Tunesien zu vergleichen. In beiden Ländern spielen Dienstleistungen eine wichtige Rolle für die Wirtschaftsentwicklung, etwa im Bereich Tourismus. In der Landwirtschaft beider Länder sind überwiegend kleinere Produzenten tätig, und „geographische Indikation“ ist für die Marktfähigkeit der Erzeugnisse bedeutsam – in Georgien für Wein, in Tunesien für Olivenöl.

Jedes Land hat seine Wahl, aber auch seine Prioritäten

Strategische Verhandlungsführung erfordert viel Detailwissen. Die Tunesier wollten daher von ihren georgischen Kollegen mehr über die Verhandlungen zu Agrarwirtschaft, Wettbewerb, Dienstleistungen und Investitionen erfahren. Aber auch auf ganz praktische Hinweise kam es den Unterhändler an, etwa wie man gleichzeitig zielführend verhandelt und sich fortbildet. Georgien hat, anders als etwa Moldau, keineswegs die von der EU vorgeschlagenen Regeln komplett übernommen, sondern proaktiv unterschiedliche Umsetzungspraktiken in einzelnen EU-Mitgliedstaaten recherchiert. Dann versuchte Tiflis, die EU für Abweichungen zu gewinnen, die gut zu den eigenen Gegebenheiten passen, oder setzte neue Praktiken durch, beispielsweise im Lebensmittelbereich die Kontrolle durch akkreditierte Personen des privaten Sektors anstelle staatlicher Laboratorien.

Manche Vertragskapitel sind komplexer als andere, etwa die für Lebensmittelsicherheit notwendigen „Sanitären und Phytosanitären Maßnahmen“. Es birgt große Herausforderungen für eine kleinteilige Agrarwirtschaft wie die georgische und die tunesische, hier EU-Anforderungen umzusetzen. Die Georgier haben deshalb maximale Übergangszeiten (dreizehn Jahre bis 2027) für die Anpassung ihrer nationalen Regeln vereinbart.

„Comprehensive Strategy“ empfohlen

Die Georgier empfahlen den Tunesiern, ein Ziel im Auge zu haben, das zur eigenen Wirtschaftsstrategie und ausgewählten Entwicklungsperspektiven passt. Georgische Experten betonten außerdem den Unterschied zwischen Harmonisierung, also der kompletten Anpassung der eigenen Regeln an die der EU, und bloßer „Approximation“ (Annäherung). Erstere sei nur eingeschränkt zu empfehlen – und „falls möglich“. Jede einzelne Formulierung im Vertragstext gelte es auf ihre Umsetzbarkeit zu überprüfen, um Anwendungsprobleme von vornherein zu vermeiden. Auch weil sich ein Land, das mit der EU eine tiefe und umfassende Freihandelszone beschließt, zur „dynamischen Implementierung“ verpflichtet – also anhaltend Änderungen von EU-Regeln berücksichtigen muss – ohne dass es als Nicht-Mitglied darüber mitbestimmt.

Der EU-Rahmen als geeigneter Reformanker?

Die Georgier machten keinen Hehl daraus, dass ihnen die Nähe zur europäischen Familie so wichtig ist, um neben dem großen Nachbarn Russland eigenständig und unabhängig zu sein. Dafür waren sie auch zu kritischen Anpassungen bereit, etwa Regeln, die Tiflis zuvor im Zuge einer umfassenden Modernisierung und Deregulierung als zu bürokratisch und korruptionsbegünstigend abgeschafft hatte. Georgien gilt als Erfolgsmodell eines Landes, in dem es gelungen ist, die Verwaltung zu reformieren und Korruption von der Regel zur Ausnahme zu machen. Zoll und Veterinärkontrollen galten als die kritischsten Bereiche. Beobachter sehen die umfassende Reform des Zolls als gelungenen Neustart, der gelang, weil Georgiens Führung den politischen Willen dafür aufbrachte. Einige Experten befürchten nun, dass die Umsetzung detaillierter EU-Anforderungen, etwa für Inspektionen von Nutztieren, in der Praxis weniger der Lebensmittelsicherheit dienen wird, sondern (wieder) ein System von Umgehung und Bereicherung Einzelner fördern könnte.

Ziel: Ausländische Direktinvestitionen (FDI) und Arbeitsplätze

Die Nachhaltigkeit von Reformen steht also noch auf dem Prüfstand. Ausländische Investoren interessiert vor allem, dass die Entwicklungen im Land berechenbar und ihre Eigentumsrechte geschützt sind. Hätte man die Wahl gehabt, wäre man in Georgien mit einem Freihandelsabkommen zufrieden gewesen – ohne aufwändige und komplizierte regulatorische Integration. Das Land sieht sich als kleiner Markt, der von der Öffnung in möglichst viele Richtungen profitiert. Durch ein kürzlich abgeschlossenes Freihandelsabkommen mit China möchte Georgien seine Attraktivität als Wirtschaftsstandort weiter steigern.

Zur Sprache kamen auch Anpassungsschwierigkeiten des Privatsektors an neue Regularien und wie sich diese mit auszuhandelnden Übergangszeiten von zwei bis drei Jahren und speziellen Programmen zur Unterstützung auffangen lassen. Zentral sei hierfür die bessere Organisation der georgischen Unternehmer – so ausländische Beobachter –, um Herausforderungen mit gemeinsamen Positionen zu begegnen und darauf wiederum mit Hilfsprogrammen reagieren zu können.

Mehr Staatseinnahmen statt Verluste durch Korruption

Gespräche im Außenministerium mit dem Direktor für Europäische Integration und im Ministerium für Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung (in dem inzwischen neun frühere einzelne Ministerien zusammengefasst wurden und koordiniert agieren) mit der Leiterin für Außenwirtschaftspolitik rundeten das Programm ab. Die Gäste aus Tunis beeindruckte vor allem die Besichtigung einer neuen Zollabfertigungszone nahe des Flughafens von Tiflis. eCustoms und Deregulierung sorgen dafür, dass Korruption dem Staat weniger Einnahmen entzieht. Insgesamt seien die Registrierung von Unternehmen und Steuerzahlungen proportional im Verhältnis zur Umsetzung von Reformen gestiegen.

Das sind Vorteile, die zumindest die tunesische Gesellschaft bisher nicht im Blick hat, die einer Freihandelszone mit der EU überwiegend mit Misstrauen begegnet. Tunesiens Unterhändler müssen sich nicht nur mit der EU, sondern wegen neuer Transparenzanforderungen der EU zeitgleich auch mit der tunesischen Zivilgesellschaft austauschen. Das haben die georgischen Unterhändler noch anders erlebt und standen hier weniger unter Druck. Dennoch berichten sie von eigenen guten Erfahrungen mit der Gründung einer DCFTA-Advisory Group, in der sich politische Entscheidungsträger und Beamte mit Vertretern der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft regelmäßig austauschen. Georgische Unternehmervertreter und NGOs bestätigten dies.

Ausblick

Nach den Trainings und Gesprächen fühlten sich die tunesischen Unterhändler besser für die Fortsetzung ihrer Gespräche mit der EU gerüstet. Wie es in Tunesien weitergeht, hängt auch von der politischen Lage ab. Noch 2019 wählen die Tunesier ihr Parlament und ihren Präsidenten neu.

Eine zentrale Rolle spielt, so die georgische Erfahrung, die Organisationsstruktur des Verhandlungsprozesses, die den regelmäßigen Informationsaustausch von politischen Entscheidungsträgern und verhandelnden Experten ermöglichen sollte. Die Georgier empfahlen ein formales Mandat für das Verhandlerteam und einen Chefunterhändler, der das Team den Prioritäten entsprechend koordinieren kann.

In jedem Fall ist weitere fachliche und praktische Unterstützung angemessen. Für die Georgier waren nach eigener Aussage gerade Experten aus den baltischen Ländern von großem Nutzen, die aufgrund ihrer eigenen Vergangenheit sowohl die Ausgangssituation in Georgien richtig einschätzten als auch einen ähnlichen Reformweg in Richtung EU gegangen sind. Die Tunesier müssen selbst herausfinden, wer für sie besonders nützlich sein kann. Der Austausch mit Vertretern der Länder der Östlichen Partnerschaft hat sich als eine Möglichkeit erfolgreichen Lernens erwiesen. Die Bertelsmann Stiftung sieht sich hier als Brückenbauer für Wissensaustausch und Wissensgewinn.

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