Weizenfeld vor dunklem Himmel (erinnert an die Ukraine-Flagge)

Ernteausfälle durch Russlands Krieg bringen zahlreiche Staaten in Not

Der russische Angriff wird dramatische Folgen für die Versorgung anderer Staaten mit Weizen, Gerste, Sonnenblumenöl und anderen Agrarprodukten haben. Befürchtet werden Nahrungsmittelkrisen oder Unruhen in einigen der ärmeren Staaten, die stark von den Lieferungen aus der Ukraine abhängig sind. Am schlimmsten betroffen sein werden der Libanon, Tunesien und Sri Lanka.

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Miriam Kosmehl
Senior Expert Eastern Europe and EU Neighbourhood

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Die Ukraine gehört zu den wichtigsten Akteuren für die weltweite Nahrungsmittelversorgung. Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat das Land die Ernte-Erträge verschiedenster landwirtschaftlicher Produkte kontinuierlich gesteigert und die globalen Exporte ausgeweitet. Umso härter treffen nun die Folgen des russischen Angriffskrieges nicht nur die ukrainische Agrarwirtschaft selbst, sondern auch diejenigen Staaten, die in besonders großem Ausmaß von den Einfuhren aus der Ukraine abhängig sind. In unserer Studie Ukraine’s Role in Global Food Supply: Individual Countries’ Vulnerability gehen wir der Frage nach, welche Länder am stärksten von den Lieferengpässen betroffen sein werden.

Die Analyse nimmt die Folgen für die Versorgung mit sechs zentralen Produkten in den Blick. Beim Sonnenblumenöl ist die Ukraine der weltgrößte Produzent und liefert fast 40 Prozent der globalen Exporte. Bei Mais (13 Prozent) und Gerste (zwölf Prozent) rangiert die Ukraine jeweils auf Rang vier. Beim Weizen ist sie der fünftgrößte Produzent, acht Prozent der weltweiten Exporte entfallen hier auf sie. Bei Sojabohnen belegt die Ukraine den siebten Rang, mit einem Anteil von gut einem Prozent des weltweiten Exports. Unter den Geflügelproduzenten liegt das osteuropäische Land auf Platz zehn und zeichnet global für gut zwei Prozent aller Exporte verantwortlich.

Im Jahr 2021, vor dem umfassenden Angriffskrieg Russlands, produzierte die Ukraine rund 5,4 Tonnen Getreide pro Hektar. Dieser Ertrag lag mehr als doppelt so hoch wie im Jahr 1991. Ähnliche Steigerungsraten gab es auch bei anderen landwirtschaftlichen Produkten, zum Beispiel bei Zuckerrüben, Kartoffeln, Gemüse sowie Beeren und Früchten. Insgesamt exportierte die Ukraine im vergangenen Jahr landwirtschaftliche Produkte im Wert von 27 Milliarden US-Dollar, darunter 86 Millionen Tonnen Getreide und 16 Millionen Tonnen Sonnenblumenkerne.

Ernteausfälle in diesem Jahr als riesiges Problem

Durch den aktuellen Krieg haben sich die Getreideausfuhren von fünf bis sechs Millionen Tonnen pro Monat auf 0,2 Millionen Tonnen im März 2022 reduziert. Im April hat sich die Situation mit einem Zuwachs auf 1,2 Millionen Tonnen zwar leicht entspannt. Aber, so Miriam Kosmehl, Osteuropaexpertin unserer Stiftung: „Das viel größere Problem drohen die zu erwartenden Ernteausfälle in diesem Jahr zu werden, mitsamt ihren Auswirkungen in das nächste Jahr hinein. Die Weizen-Ernte könnte bis zu rund elf Millionen Tonnen unter dem Vorjahr liegen, die Mais-Ernte dürfte sich halbieren. Das wird sich dramatisch auf die Agrarmärkte auswirken, da die Ukraine selbst große Teile der Ernte benötigen dürfte und vermutlich viel weniger exportieren wird.“

Um die Folgen besser einschätzen zu können, hat die Studie 141 Staaten untersucht, die mindestens aus einer der sechs Kategorien Agrarprodukte aus der Ukraine importieren. Es geht zum einen darum, wie hoch der jeweilige Importanteil an den benötigten Erzeugnissen ist und zum anderen darum, wie schwierig es für die Abnehmerländer ist, diesen Anteil zu ersetzen. Die Analyse stuft die folgenden Staaten als besonders verwundbar ein:

  • Weizen: Libanon, Thailand, Mauretanien, Tunesien, Indonesien, Korea und Jemen (86 Staaten analysiert)
  • Gerste: Sri Lanka, Katar, Saudi-Arabien, Zypern, Libanon, Guyana (57 Staaten)
  • Mais: Litauen, Tunesien, Niederlande, Finnland, Portugal, Irland, Israel, Dänemark, Spanien, Großbritannien, Norwegen, Zypern, Belgien, Libanon, Ägypten (82 Staaten)
  • Sonnenblumenöl: Indien, Nepal, Oman, Guinea, Vereinigte Arabische Emirate, Elfenbeinküste, Guyana, Algerien, Litauen, Niederlande, Jordanien, Costa Rica, Palästina, Sri Lanka, China (126 Staaten)
  • Sojabohnen: Georgien, Belarus, Kenia, Polen, Moldau, Griechenland, Aserbaidschan, Türkei, Sri Lanka, Litauen, Ungarn, Libanon, Kuwait, Finnland, Schweiz (49 Staaten)
  • Geflügel: Kirgistan, Armenien, Slowakei, Moldau, Aserbaidschan, Georgien, Niederlande, Seychellen, Gambia, Montenegro, Mauretanien (80 Staaten)

Staaten in Afrika und Asien besonders verwundbar

Über alle Produktkategorien hinweg dürften Staaten in Asien, Afrika und Europa am stärksten von den zu erwartenden Lieferengpässen betroffen sein. Das größte Risiko gibt es für den Libanon, Tunesien und Sri Lanka. Insgesamt ist mehr als ein Drittel der untersuchten Länder in Bezug auf Agrarimporte aus der Ukraine verwundbar. Die Situation für Staaten in Afrika und Asien verschärft sich noch dadurch, dass der Export aufgrund der blockierten ukrainischen Häfen zunächst überwiegend per Bahn erfolgen muss und damit zu großen Teilen in Europa bleiben wird.

Zwar hat die EU erste Schritte unternommen, um den Einbruch der Liefermengen zumindest abzufedern. So gibt es bereits Einfuhrerleichterungen für ukrainische Agrarerzeugnisse nach Europa. In der Diskussion befindet sich zudem ein Aktionsplan, der alternative Lieferwege erschließen soll. Auch eine stärkere Angleichung der Logistik-Infrastrukturen zwischen der Ukraine und dem EU-Raum sowie ein bereits erörtertes Abkommen für den Transport per Straße sind grundsätzlich begrüßenswert. Miriam Kosmehl stellt jedoch klar: „Damit von diesen Maßnahmen nicht nur die europäischen Staaten profitieren, müssen zusätzlich zielgerichtete Lösungen für die betroffenen afrikanischen und asiatischen Länder gefunden werden, um deren Versorgung aufrechtzuerhalten.“

Die schlimmsten Auswirkungen zeigen sich erst im kommenden Jahr

Die wichtigste Voraussetzung dafür aus Sicht der Expertin: „Die Politik muss sich bewusst machen, dass sich die schlimmsten Auswirkungen erst im kommenden Jahr zeigen werden, wenn kein neues Getreide nachkommt und die Preise noch mehr steigen.“ Folglich sei es notwendig, schon jetzt Maßnahmen einzuleiten und Veränderungen anzustoßen, mit denen die drohende Nahrungsmittelknappheit in Afrika und Asien gelindert werden kann. Dazu zählen, neben einer strategischen Diversifizierung der Importe auf Seite der Abnehmerländer, etwa gerechtere Handelsabkommen, welche die Wettbewerbsfähigkeit der lokalen Agrarwirtschaft verbessern. Auch ein Transfer von Innovationen und der Aufbau effizienter Produktionsprozesse kann dazu beitragen, die betroffenen Länder etwas unabhängiger von landwirtschaftlichen Gütern aus der Ukraine zu machen.