Ein Mann läuft durch eine komplett zerstörte Straße

EU kann strategische Ohnmacht in Syrien überwinden

Über eine Million Syrer sind seit 2015 nach Europa geflüchtet. Eine Rückkehr nach Syrien braucht ein sicheres und rechtsstaatlich funktionierendes Umfeld. Um das zu ermöglichen, sollten Berlin und Brüssel ihre außenpolitischen Instrumente bündeln und sich mit der Syrien-Politik Russlands, der Türkei, Irans, Saudi-Arabiens, der USA und Israels auseinandersetzen. Wie diese Schlüsselstaaten im Nahen Osten agieren, und welche Interessen Europa wie durchsetzen kann, beantworten Länder-Experten in einem neuen Policy Brief.

Foto Christian Hanelt
Christian Hanelt
Senior Expert Europe, Neighbourhood and the Middle East
Foto Miriam Kosmehl
Miriam Kosmehl
Senior Expert Eastern Europe and EU Neighbourhood

2018 haben rund 100.000 aus Syrien Geflohene in der EU Asyl erhalten; das war jeder dritte Antragsteller. Zusammen mit den bereits über eine Million Syrern, die seit 2015 nach Europa gekommen sind, ist die EU gemeinsam mit ihren südöstlichen Nachbarländern Türkei, Libanon und Jordanien das Gebiet, in dem sich zurzeit die meisten Geflüchteten aus Syrien aufhalten.

In Syrien selbst sind über sechs Millionen Menschen binnenvertrieben; sie und fünf Millionen weitere Syrer brauchen täglich humanitäre Hilfe. Die Hälfte des Landes ist durch den Bürgerkrieg zerstört; die Weltbank veranschlagt für den Wiederaufbau Kosten von über 300 Milliarden Euro, eine Summe, die die Weltgemeinschaft über zwei Jahre für die gesamte globale Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt.

Diese wenigen Zahlen verdeutlichen, dass der Wiederaufbau von Wirtschaft und Gesellschaft in Syrien für die EU von zentraler Bedeutung ist. Gleichzeitig stellen Berlin und Brüssel Bedingungen für ihr politisches und finanzielles Engagement an Staatschef Assad und seine Unterstützer in Moskau und Teheran: die Forderungen reichen von einem politischen Wandel, an dem alle Teile der Bevölkerung partizipieren können, bis zu einem sicheren und rechtsstaatlich funktionierendem Umfeld.

Übersichtskarte über die Einflusszonen in Syrien, Stand: 15.04.2019.

Quelle: Fact Sheet Syrien, 09. März – 15. April 2019, Nr. 73
Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK),
sowie die professionelle Erstellung der Karte: Institut für Militärisches Geowesen (IMG), beide BMLV, Wien.

Die Forderungen der EU sind richtig, doch viele der in Syrien einflussreichen Regionalmächte teilen sie nicht. Dennoch wünschen sie das finanzielle und technische Engagement Europas beim Wiederaufbau Syriens.

Das ist eine Chance für die europäische Nachbarschaftspolitik, Brüsseler Interessen durchzusetzen, selbst wenn das Gestaltungspotenzial der EU durch die Einflussmöglichkeiten der wirklichen Akteure im Nahen Osten, nämlich Russland, die Türkei, Iran, Saudi-Arabien und Israel, begrenzt ist. Zudem zieht sich der transatlantische Partner Europas, die USA, militärisch aus dem Osten Syriens zurück, nachdem der „Islamische Staat“ vertrieben wurde. Auch die Unberechenbarkeit der Trump'schen Nahostpolitik lädt neue Verantwortung auf Brüsseler Schultern.

„Antagonismen in der Nachbarschaft der Europäischen Union – Strategische Ohnmacht in Syrien überwinden, wie die EU Flagge zeigen und den Interessen der Regionalmächte begegnen kann“: Dieser neue Policy Brief des Projekts „Strategien für die EU-Nachbarschaft“ der Bertelsmann-Stiftung erklärt die neuen Parameter des Syrien-Konflikts, analysiert die Regionalpolitik Russlands, der Türkei, Irans, Saudi-Arabiens, der USA und Israels und schlägt vor, wie Berlin und Brüssel ihre Interessen in dem schwierigen Umfeld ihrer südöstlichen Nachbarschaft besser durchsetzen und wie sie mit der Nahost-Politik der genannten Schlüsselstaaten gezielter umgehen können.

Die Vorschläge für ein europäisches Engagement in Syrien reichen von einem Festhalten an Minimalkriterien für Wiederaufbauhilfen über ein unabhängiges und verlässliches Monitoring von Investitionen bis zur Verfolgung und juristischen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen.

Um die Eskalationsgefahren im Nahen Osten mit Hilfe von Verhandlungen zu reduzieren, wird eine intensive Shuttle-Diplomatie mehrerer europäischer Außenminister zwischen Washington, Moskau, Ankara, Teheran, Riad und Jerusalem vorgeschlagen. Gleichzeitig sollten Brüssel, Berlin, London und Paris ihr EU-/E-3 Diplomatie-Format um ein mittel-/osteuropäisches Mitgliedsland erweitern, um die Rückkopplung auch an die Interessen der jungen EU-Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

An diesem Policy Brief haben die Osteuropa-Expertin Miriam Kosmehl und der Nahost-Fachmann Christian Hanelt von der Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit neun Experten/innen zu den Ländern Russland, Türkei, Iran, Saudi-Arabien, USA und Israel sowie für europäische Außenpolitik und internationale Beziehungen gearbeitet.

Das Europaprogramm der Bertelsmann-Stiftung möchte mit seinem Projekt „Strategien für die EU-Nachbarschaft“ Vorschläge erarbeiten, wie die EU in ihrer direkten Nachbarschaft, von Weißrussland über Syrien bis Marokko, zu einem Ring stabiler Staaten beitragen kann.