Auf dem Bild: Irina Scherbakowa

Russland begreifen ist anders als Russland verstehen

Zu Beginn der Fußball-WM 2018 hatte die Bertelsmann Stiftung Besuch aus Moskau. Die Historikerin und Publizistin Irina Scherbakowa gab am 20. Juni in Berlin Einblicke in die aktuelle Lage in ihrem Land.

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Einen Tag nach Beginn des Fußballfests und Russlands 5:0-Sieg über Saudi-Arabien verkündete Premierminister Dmitri Medwedew die Erhöhung des Rentenalters – für Männer von 60 auf 65 Jahre, für Frauen von 55 auf 63. Was prinzipiell angemessen erscheint ist in einem Land, dessen Bürger überwiegend arm sind und eine deutlich geringere Lebenserwartung haben als etwa in Deutschland, ein Einschnitt mit existenzgefährdenden Nachteilen. Ohnehin sind die russischen Renten so gering, dass ihre Empfänger zusätzlich arbeiten, um über die Runden zu kommen. Am Pensionärs-Status hängen zudem wichtige Steuererleichterungen und etwa das kostenfreie Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel.

Präsident Putin, der noch 2003 versprochen hatte, das Rentenalter werde zu seinen Amtszeiten nie erhöht, dürfte bewusst die Regierung vorgeschickt haben. Stößt das Gesetz auf zu viel Widerstand, kann er es immer noch aufweichen oder gar zurücknehmen. Proteste zur Zeit der WM sind nicht zu erwarten, denn in den WM-Städten, die gleichzeitig politische Zentren sind, herrscht Demonstrationsverbot, d.h. jeder Teilnehmer würde sich automatisch strafbar machen.

„Der wichtige Bereich des öffentlichen Lebens wird angegriffen. Wir haben den Kampf verloren, zu zeigen, dass Freiheit etwas wert ist. Die konkreten Freiheiten wie etwa Meinungs- und Versammlungsfreiheit schwinden.“

Irina Scherbakowa

Willkür und staatliche Repression hätten zugenommen, so Scherbakowa. Eine fast „postmoderne Diktatur“ sei entstanden, die durch mediale Propaganda gefördert werde und sich mit immer mehr Sicherheitsorganen absichere, etwa der „Russischen Garde“ oder mit einem „Zentrum gegen Extremismus“. Diese müssten ihre Existenz rechtfertigen und fielen so durch besonders viel „Tüchtigkeit“ auf. Davon zeugt auch die Website https://ovdinfo.org, auf der junge Russen Bürgerrechtsverletzungen zusammentragen.

Putin war nach den schwierigen 90er Jahren mit den Versprechen Modernisierung und Stabilität angetreten. Beide hat er nicht erfüllt, auch wenn er auf der jährlichen Live-Fragerunde im Staatsfernsehen versichert, der russischen Wirtschaft gehe es besser. Die Reallöhne seien geschrumpft, sagt Scherbakowa. Deshalb interessierten sich auch ganz normale Menschen im Alltag für den Ölpreis. Reformen seien ausgeblieben, in der Wirtschaft wie im Gesundheits- oder Bildungssektor. Über den alljährlichen, landesweiten Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte“ ist Irina Scherbakowa in Kontakt mit Menschen in ganz Russland. Die soziale Situation jenseits der großen Städte sei besorgniserregend. Den Menschen mache zu schaffen, dass ihre Zukunft kaum planbar sei. Die Sorge gerade junger Menschen zeige sich insbesondere darin, dass die Mehrheit unter ihnen das Land verlassen möchte. Die Generation Putin kenne zwar keinen anderen Präsidenten, aber durchaus andere Lebensformen.

„Wir dürfen die Außenpolitik nicht von den innenpolitischen Prozessen in Russland trennen.“

Irina Scherbakowa

Statt in das noch vom sowjetischen Präsidenten Gorbatschow angedachte „gemeinsame Haus Europa“ einzuziehen, definiert sich Russland über die Abgrenzung von inneren und äußeren Feinden. Propagiert werde ein russischer Nationalismus, der die stalinistische Vergangenheit verklärt. Eine zusätzliche Herausforderung ergebe sich auch aus der Trump-Präsidentschaft, der mit seinem eigenen Politikstil im Nachhinein Putins Außenpolitik legitimiere.

Im heutigen Russland ist die angesehene NRO „Memorial“, die erste zivilgesellschaftliche Organisation, die Scherbakowa mitgründete und deren Ziel zunächst die Erforschung des Stalinismus war, zum „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Dennoch lässt Irina Scherbakowa nicht ab von ihrem gesellschaftlichen Engagement, sondern will „post-moderne Widersprüche nutzen und da arbeiten, wo es noch möglich ist.“ Die Zivilgesellschaft müsse im öffentlichen Bereich bleiben. Sie dürfe allerdings ihre Würde nicht verlieren. Die Bildungs- und Verständigungsinitiativen, denen Irina Scherbakowa vorsteht, sind ein Beispiel dafür, wie Inseln der Freiheit noch bewahrt werden können.

Die kluge Optimistin Irina Scherbakowa arbeitet weiter gegen die Isolation und versucht, Spaltungen nicht zuzulassen – in der russischen Gesellschaft und auf dem gemeinsamen europäischen Kontinent. Nationalismus und Populismus dürften nicht die Oberhand gewinnen, sagt die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, die mit ihrer eigenen russisch-jüdischen Familie die komplexe europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts unmittelbar miterlebt hat.