Insbesondere in Zeiten einer globalen Rezession sollte die EU die Ausgaben im mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 dort priorisieren, wo sie Bürger*Innen und Mitgliedstaaten den größten Nutzen bringen. In ihrem Beitrag zeigen Michael Thöne und Helena Kreuter, wie das Konzept der europäischen öffentlichen Güter eine solche Priorisierung der EU-Politik ermöglicht und eine überzeugende Erzählung für eine Neuordnung der EU-Politik hin zu mehr souveräner Entscheidungsfindung liefert - nur dort, wo es wirklich nötig ist.
Über die letzten zehn Jahre wurde die Europäische Union von mehreren Krisen unterschiedlicher Art heimgesucht. Obwohl die Coronavirus-Pandemie mit ihren gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen derzeit die politische Wahrnehmung und das Handeln in Europa dominiert, ist sie nur die jüngste in einer Reihe von Herausforderungen. Die begrenzte Fähigkeit der EU, wirksam auf solche Herausforderungen zu reagieren, hat die Notwendigkeit von Reformen deutlich gemacht. Leider führen Diskussionen über das Zukunftsmodell der EU oft zu einem Stillstand zwischen integrationsfreundlichen und integrationsfeindlichen Positionen. Hier kann das Konzept der europäischen öffentlichen Güter eine alternative Erzählung für eine gezielte Vertiefung der europäischen Integration in den Bereichen bieten, in denen sie den Bürger*Innen den größten Nutzen bringt.
Die richtige Regierungsebene durch die Linse der europäischen öffentlichen Güter identifizieren
In Wirtschaftslehrbüchern wird ein öffentliches Gut als nicht ausschließbar und nicht konkurrenzfähig im Konsum definiert, was zu einer Unterversorgung mit einem öffentlichen Gut führt, das ein Eingreifen des Staates rechtfertigt. In der Realität ist die Art eines bestimmten Gutes oft nicht so klar definiert, wie es Schulbuchdefinitionen hoffen lassen. Für solche gemischten Güter erlaubt es die Theorie des Steuerföderalismus, die richtige Ebene der staatlichen Versorgung zu bestimmen. Auf die EU übertragen, würde die Linse der europäischen öffentlichen Güter es gebieten, das Handeln der EU auf jene Politikbereiche zu konzentrieren, in denen ein europäischer Mehrwert besteht. Mit anderen Worten, sie konzentriert das europäische Handeln auf jene Politikbereiche, in denen es im Vergleich zu nationalen Lösungen den größten Nutzen bringt.
Dies bedeutet nicht, dass die europäischen öffentlichen Güter eine Einbahnstraße in Richtung einer Vertiefung der Integration sind. Vielmehr ermöglicht es eine kritische Neubewertung der Kompetenzverteilung zwischen der EU und der Ebene der Mitgliedstaaten. Nach der Theorie des Steuerföderalismus sollten öffentliche Güter in fiskalischer Äquivalenz organisiert sein, was bedeutet, dass sich Entscheidungsträger, Finanziers und Nutzer eines öffentlichen Gutes überschneiden. Wenn sich eine EU-Politik als zu zentral bereitgestellt herausstellen würde (siehe Abbildung), würde die Linse der europäischen öffentlichen Güter auch eine Dezentralisierung des Politikfeldes zurück in die Mitgliedstaaten begünstigen.
Bestandsaufnahme des aktuellen EU-Haushalts und Blick auf den nächsten...
Während solche konzeptionellen Diskussionen notwendigerweise relativ abstrakt bleiben, wurden in der Literatur mehrere Politikfelder als potenzielle europäische öffentliche Güter beschrieben: Verteidigung, digitale Souveränität, Außenpolitik oder in jüngerer Zeit Pandemievorsorge, um nur einige zu nennen. In ähnlicher Weise erlaubt ein Blick auf den aktuellen EU-Haushalt eine Analyse hinsichtlich seines Schwerpunkts auf europäische öffentliche Güter. Im Haushalt 2019 beispielsweise fließen die größten Ausgabenanteile in die Gemeinsame Agrarpolitik und die Kohäsionspolitik, zwei Politikbereiche, die aus Sicht der europäischen öffentlichen Güter eher auf nationaler Ebene bereitgestellt werden sollten.
Solche Fragen nehmen in Zeiten des Coronavirus eine zunehmende Bedeutung ein. Die Einigung des Europäischen Rates auf den mehrjährigen Finanzrahmen wird den Ton für die kommenden Jahre angeben - aber die Herausforderungen, vor denen die EU steht, werden nicht auf einen EU-Haushalt 2028-2035 warten. Die europäischen Institutionen sollten sicherstellen, dass die begrenzten Mittel, die in Zeiten der Rezession zur Verfügung stehen, dorthin fließen, wo sie den Mitgliedstaaten und Bürger*Innen am meisten nützen - in jene Politikbereiche, die europäische öffentliche Güter bereitstellen.