Konsens zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den USA stärken
Um das Leid und den Krieg zu stoppen, sollte Brüssel aber politisch stärker Flagge zeigen, denn die Risiken rund um den Syrienkonflikt bleiben hoch. Hier seien nur sechs hervorgehoben: (1) gesundheitliche, soziale und ökonomische Strukturen brechen infolge von Krieg, Vertreibung, Korruption, Sanktionen und den Folgen der Corona-Pandemie in den drei syrischen Territorien (Assad-Gebiet, Idlib-Provinz, Nordosten) weiter zusammen; (2) mit einer Fortsetzung des Krieges rund um die Idlib-Provinz ist zu rechnen, wenn der türkisch-russische Waffenstillstand nicht hält; (3) militärische Konfrontationen zwischen Israel und Iran halten an; (4) der kurdisch-türkische Konflikt schwelt weiter; (5) punktuell wiedererstarken Zellen des „Islamischen Staates“; (6) der Libanon driftet in ein soziales und finanzielles Chaos ab, denn von der Armut und Not sind dort auch fast eine Million syrische Flüchtlinge betroffen.
Die wichtigsten externen militärischen Akteure sind Russland, Iran mit Milizen einschließlich der Hisbollah, die Türkei und die USA (mit zwei verbleibenden Militärstützpunkten).
„Das syrische Regime um Präsident Bashar al-Assad hat noch keinen vollständigen militärischen Sieg errungen, aber mit russischer und iranischer Hilfe dafür gesorgt, dass es nicht gezwungen werden kann, sich selbst aufzulösen. Das Regime hat zwar bisher den Krieg, aber wahrscheinlich nicht den Frieden gewonnen“, so der Nahostexperte Daniel Gerlach auf welt.de.
Die Bemühungen der Vereinten Nationen um eine politische Lösung des Konflikts in Übereinstimmung mit der UN-Resolution 2254 sind seit Jahren zum Stillstand gekommen.
Diesen politischen Lösungsweg unterstützt die EU diplomatisch (vgl. die EU-Syrien-Strategie von 2017 und die Deklarationen der vier Brüsseler Syrienkonferenzen). Langfristig wünscht sich Brüssel aber, dass die Einheit, Souveränität und territoriale Integrität des syrischen Staates hergestellt werde und dieser als ein geachteter Nachbar im Rahmen der direkten Nachbarschaft fungieren möge. Das würde quasi ein „neues Syrien“ bedeuten, dass sich in Richtung eines tunesischen und georgischen Staatswesens entwickeln würde mit einer Stabilität und Resilienz, die auf pluralistischen Strukturen, Rechtsstaatlichkeit, guter Regierungsführung und inklusiven, sozialen und ökonomischen Teilhabemöglichkeiten basiert. Hiervon ist das Herrschaftssystem des Assad-Regimes und das islamistischer Milizen in Idlib weit entfernt.
Die aktuelle zögerliche und vorsichtige Syrienpolitik der EU speist sich aus folgenden Einschätzungen: (1) Brüssel habe nur wenige Druck-und Anreizmöglichkeiten, um das Verhalten von Russland, Iran und der Türkei zu ändern; (2) Europa habe wenig Einfluss auf Verhaltensänderungen des Assad-Regimes; (3) Europäische Regierungen haben Sorge, IS-Kämpfer, die Bürger europäischer Länder sind, zurücknehmen zu müssen; (4) Sie haben auch Sorge vor weiteren Fluchtbewegungen von Syrern aus der Türkei nach Griechenland, Zypern und Bulgarien; (5) Unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es eine zunehmende Kontroverse über den Grad der Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime für eine Beteiligung am Wiederaufbau, unterschiedliche Bewertungen der Wirksamkeit von Sanktionen sowie divergierende Einschätzungen im Umgang mit der Türkei und Russland.
Auch wenn die EU aufgrund dieser fünf Gründe eine zögerliche Syrienpolitik fährt, so sei den EU-27 dennoch empfohlen, auf folgenden diplomatischen Feldern aktiver zu werden, um die Risiken des Syrienkonfliktes für die EU einzudämmen:
(1) den Konsens der EU-27 erneut durch einen intensiveren Dialog mit den Kritikern der EU-Syrien-Strategie zu festigen – das kann auch durch Einbindung Polens und Italiens in das EU/E3-Politikformat geschehen; (2) umfassendere Abstimmung mit der Syrienpolitik der USA - startend mit Verhandlungen über humanitäre Ausnahmeregelungen im US-Sanktionsregime; (3) die gezielten EU-Sanktionen beizubehalten und die Verteilung der humanitären Hilfe nicht vom Regime entscheiden zu lassen, sondern dieses zu umgehen und auf andere innergesellschaftliche Kräfte zu legen; (4) engagierte Pendeldiplomatie mehrerer EU-Außenminister gleichzeitig zwischen Washington, Moskau, Ankara, Teheran, Riad und Jerusalem, um regionale Konfrontationen rund um Syrien abzubauen; (5) kritische Beobachtung und Überwachung der Aktivitäten der syrischen Botschaften in den EU-Mitgliedstaaten, Verhinderung illegaler Aktivitäten und Ausstellung von Pass-Ersatzpapieren für in der EU ansässige Syrer, um dem Regime Zugriffs- und Einkommensmöglichkeiten zu entziehen; (6) den politischen Dialog mit kurdischen Entscheidungsträgern und mit der Türkei zu suchen - mit dem Ziel, dass die Kurden gleichberechtigte Mitbürger eines „neuen Syriens" werden.