Screenshot der Panellisten

Was zählt für ökonomischen und gesellschaftlichen Erfolg? Alltägliche Herausforderungen von EuropäerInnen verstehen

Die Covid-19-Pandemie hat Europa vor große Herausforderungen gestellt und auf einige Bereiche des täglichen Lebens ein neues Licht geworfen. Was ist uns wirklich wichtig? Werden Menschen in systemischen Berufen angemessen bezahlt? Können wir aktuell über Nachhaltigkeit und Digitalisierung nachdenken, oder ist in erster Linie der Erhalt von Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft wichtig? Im Rahmen einer virtuellen Konferenz organisiert vom Programm „Europas Zukunft“ und der OECD kamen Mitglieder der "High Level Expert Group on the Measurement of Economic Performance and Social Progress" (HLEG) und weitere ExpertInnen zusammen, um über Wohlfahrtsindikatoren und deren Relevanz in der Krise zu sprechen. Mit dabei waren Nobelpreisträger Stiglitz und die Staatssekretäre Schmidt und Kastrop. 200 ZuschauerInnen aus der ganzen Welt verfolgten das Event.

Ansprechpartner

Brigitte Mohn eröffnete die High-Level Veranstaltung mit einem Grußwort und führte in das Thema des Abends ein. Sie betonte, dass die Covid-19-Krise viele Sektoren getroffen hat. Die Förderung und Stärkung eines resilienteren Europas durch Investitionen in das internationale Kräftegleichgewicht und den Wettbewerb seien daher essentiell. Sie stellte den Aspekt der Wohlfahrt als fundamentale Herausforderung unserer Zeit heraus und befürwortete, dass es weitere Indikatoren neben dem BIP zur Messung von tatsächlichem Wohlstand geben müsse. Aufgrund der Krise sei dies wichtiger als zuvor.

Christian Kastrop, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, moderierte den ersten Teil der Veranstaltung. Er hob die Wichtigkeit der Arbeit der HLEG in solchen Zeiten hervor. Leider seien Indikatoren jenseits der „harten“ makroökonomischen Größen lange Zeit in Politik und Ökonomie nicht bedacht worden. Aufgrund der Corona-Krise würden Ungleichheiten weiter steigen und daher seien neue Methoden der Wohlfahrtsmessung von großer Bedeutung.

Jenseits des BIP: Die reine Messung von Einkommensveränderungen spiegelt nicht die tatsächlichen Lebensumstände wider.

Nobelpreisträger und stellvertretender Vorsitzender der HLEG Joseph E. Stiglitz erläuterte anschließend im Detail die Ergebnisse des neusten HLEG-Berichts. Bessere Statistiken und Messungen von Wohlfahrt seien zunächst notwendig, um im angemessenen Umfang auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Die Analysen hätten gezeigt, dass das reine Messen von Einkommensveränderungen nicht tatsächliche Lebensumstände widerspiegelt. Damit Maßnahmen in Zukunft noch besser auf die Bedürfnisse der Gesellschaft abgestimmt sein können und Ökonomien krisenfester werden, müsse die Forschung zu Wohlfahrt und ihren Komponenten weiterhin vertieft werden. Allgemein sei es wichtig, dass in Zeiten von Krisen Regierungen ihre unterstützenden Maßnahmen für die Gesellschaft nicht bei ersten Anzeichen einer Erholung der Wirtschaft aufgeben, sondern weiterverfolgen, um eine erneute Rezession zu vermeiden. Mit Blick auf die aktuelle Gesundheitskrise forderte Stiglitz, dass Nachhaltigkeit und Resilienz sowie das Vertrauen in Institutionen in Europa gestärkt werden müssten. Um dies zu erreichen sei es nun oberste Priorität, den Wohlfahrtsgedanken in die politische Reaktion auf die Krise mit einzubeziehen.

In Zeiten von Corona brauchen wir transformative Politik.

Den zweiten Teil der Veranstaltung moderierte Martine Durand, ebenfalls stellvertretende Vorsitzende der HLEG und frühere OECD Chef-Statistikerin. Sie führte in die Panel-Diskussion ein, in der Lehren für die Politik gezogen wurden. Auf dem Panel diskutierten neben Prof. Stiglitz, der Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen Wolfgang Schmidt, die OECD-Stabschefin und G20 Sherpa Gabriela Ramos, der Chefökonom der schottischen Regierung Gary Gillespie und der Präsident der Global Solutions Initiative Dennis Snower. Schmidt betonte, dass zu den bekannten „Drei T‘s“ – „timely, targeted, temporary“ – der ökonomischen Entwicklung ein viertes – „transformative“ – in Folge der aktuellen Krise hinzugenommen werden müsse. Aus der Vergangenheit hätten wir gelernt, schnell und mutig zu reagieren und den vorhandenen fiskalischen Spielraum auf nationaler Ebene voll auszunutzen. Die Covid-19-Krise erfordere jedoch darüber hinaus eine abgestimmte Kooperation auf EU-Ebene, da kein Mitgliedstaat alleine überleben würde. Letztendlich könnten wir jedoch erst in ein bis zwei Jahren das gesamte Ausmaß der Krise überblicken.

Ziel sollte es sein, einen besseren Status Quo als vor der Krise zu erreichen.

Stiglitz stellte in der Diskussion heraus, dass die aktuelle Krise eine Möglichkeit der Neuausrichtung darstelle. Die Welt vor Corona war bereits geprägt von vielen Ungleichheiten, die nun noch mehr zum Vorschein kämen. Daher sei es wichtig, nicht zu unserem Zustand vor der Krise zurückzukehren, sondern einen neuen, besseren Status Quo zu erreichen. Ausreichende unterstützende und nachhaltige Ausgaben des Staates seien dabei unabdingbar, um Nachwirkungen der Krise vermeiden. Gabriela Ramos zentrierte ihren Diskussionsbeitrag um die Aussage, dass schon allein in der Entscheidung, was gemessen werde, eine politische Dimension läge. Sie stellte heraus, dass die Zeit für ein nachhaltiges Wachstum gekommen sei und ging darauf ein, dass es besser regulierte Märkte brauche. Gary Gillespie stellte den schottischen Ansatz zur Umsetzung von Wohlfahrt in politischen Maßnahmen dar. Ein wichtiger Aspekt seien Befragungen der BürgerInnen zu ihren Werten und Vorstellungen. Dennis Snower stellte heraus, dass eine Förderung von Wandel wichtig sei, um „Zombie-Ökonomien“ in Folge der Corona-Krise zu vermeiden. Zusätzlich sei die Förderung von sozialen Sicherheitsmechanismen notwendig. In Bezug auf die große Abhängigkeit von modernen Technologien und digitaler Infrastruktur fügte er außerdem hinzu, dass die Entwicklung digitaler Eigentumsrechte besonders wichtig sei.

Die richtigen Politikmaßnahmen sind entscheidend.

Nach der Paneldiskussion wurde auf Fragen aus dem Zuschauerraum eingegangen. Dabei ging es um die Frage, ob staatliche Unterstützungsausgaben an Konditionen geknüpft sein sollten, aber auch inwiefern man sich aktuell für Entwicklungsländer einsetzen könne. Vonseiten der Panellisten wurde beispielsweise die Bedeutung einer aktiven Arbeitsmarkt- und Industriepolitik sowie die Umschulung von Arbeitskräften zur Unterstützung von technologischem Wandel genannt. Weiterhin sollten die Möglichkeiten in der Ausgestaltung des Steuersystems und die Rolle staatlicher direkter Investitionen, die sich mit langfristigen Zielsetzungen wie dem Klimaschutz verbinden lassen, genutzt werden. Es waren sich alle einig, dass es bei der Messung von Wohlfahrt nicht nur um Statistik ginge, sondern vor allem darum, das Leben von Menschen in ihrem Sinne zum Positiven zu verändern.

 

Die Veranstaltung in voller Länge gibt es hier.