Gemeinsam Krisen abfedern, das ist die Grundidee einer europäischen Arbeitslosen-Rückversicherung. Dafür könnten die Euroländer einen Finanztopf schaffen, der in schweren Krisen Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit auffängt. Was einige als sinnvollen Mechanismus sehen, kritisieren andere als Transferunion.
Die globale Finanzkrise hat der EU vor Augen geführt, wie schnell ein "Domino-Effekt" in Gang gesetzt werden kann: Geraten einzelne EU-Länder in Finanzschwierigkeiten, kann sich die Krise schnell auf andere Länder übertragen. Steigende Schulden, Währungsturbulenzen und hohe Arbeitslosigkeit sind mögliche Folgen. Das Instrument einer europäischen Arbeitslosen-Rückversicherung könnte den Euroraum und seine Beschäftigten in schweren Krisen besser stabilisieren als nationale Schutzmechanismen allein. Eine Rückversicherung hätte knapp ein Viertel der durch Arbeitslosigkeit entstandenen Einkommensverluste in der Eurozone zwischen 2000 und 2016 aufgefangen. Im Krisenjahr 2009 wären die Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit in der Eurozone um mehr als 14 Milliarden Euro abgefedert worden. Auch Deutschland hätte zum Beispiel im Jahr 2003 aufgrund gestiegener Arbeitslosigkeit rund 2,5 Milliarden Euro aus dem Fonds erhalten.
Das sind die Ergebnisse einer Studie, für die das Ifo Institut in unserem Auftrag von 2000 bis 2016 die Wirkung einer Rückversicherung für nationale Arbeitslosenversicherungen im Euroraum untersucht hat. Die Rechnungen simulieren, dass Euroländer in Zeiten sinkender Arbeitslosigkeit anteilig in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Daraus können Mitglieder Auszahlungen erhalten, sofern ihre Arbeitslosenquote in schweren Krisen oberhalb des Durchschnitts vergangener Jahre liegt und gleichzeitig die Arbeitslosenquote innerhalb eines Jahres signifikant steigen würde.
Unter den Ländern, die im untersuchten Zeitraum am stärksten von einer Rückversicherung profitiert hätten, gehören nicht nur Euroländer aus dem Süden: In Finnland, Österreich und Zypern hätte eine Rückversicherung fast ein Viertel (24 Prozent) der durch Arbeitslosigkeit entstandenen Einkommensverluste aufgefangen. Aber auch in Frankreich, Spanien und Irland hätte die Rückversicherung noch 21 Prozent der Schocks auffangen können. In Deutschland wären in Krisenzeiten rund ein Fünftel der entstandenen Einkommensverluste durch einen gemeinsamen Finanztopf abgefedert worden.
Keine dauerhaften Transfers
Ein wesentlicher Kritikpunkt an einer europaweiten Rückversicherung sind Sorgen über permanente Transferzahlungen, die vor allem wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland betreffen würden. Die in der Studie simulierte Rückversicherung könnte solche Befürchtungen entkräften. "Zwischen 2000 und 2016 wäre kein Land permanenter Nettozahler oder -empfänger gewesen", so Christian Kastrop, EU-Finanzexperte unserer Stiftung. Durchschnittlich hätten die Mitgliedsländer weniger als 0,1 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes jährlich eingezahlt. Insgesamt hätten bis auf Belgien und Malta alle Mitgliedsstaaten seit Einführung des Euros in mindestens einem Jahr Auszahlungen erhalten und mindestens dreimal einzahlen müssen.
Wie kann eine europäische Arbeitslosen-Rückversicherung aussehen?
Das in der Studie untersuchte Modell funktioniert wie folgt: In Zeiten rückläufiger Arbeitslosigkeit zahlt ein Land Beiträge ein, während Auszahlungen zur Stütze nationaler Arbeitslosenversicherungen nur in großen Krisen erfolgen. So soll sichergestellt werden, dass keine falschen Anreize für die Wirtschafts- und Finanzpolitik gesetzt werden – denn in kleinen und mittleren Krisen erhalten Länder keine Unterstützung und müssten so für ihre schlechte Wirtschaftspolitik selbst aufkommen. Auszahlungen werden an Bedingungen geknüpft: Zum einen muss die Arbeitslosenquote in einem Mitgliedsland oberhalb des Durchschnitts der vergangenen Jahre liegen. Zum anderen muss innerhalb eines Jahres ein starker Anstieg der Arbeitslosenquote vorliegen. "Eine Arbeitslosen-Rückversicherung sollte die Eurozone stabilisieren, ohne falsche Anreize zu setzen. Ein Modell, das nur in schweren Krisen und nur kurzfristig Hilfe leistet, kann Solidarität und Marktdisziplin in der Eurozone gleichermaßen fördern", so Kastrop.
Stabilisierung auf verschiedenen Wegen
Die Studie analysiert die Stabilisierungswirkung anhand von zwei Komponenten: Erstens zeigt sie das Stabilisierungspotential durch Zahlungen zwischen den versicherten Ländern auf. Diese Zahlungen kommen zustande, weil Arbeitsmarktschwankungen zwischen den Ländern voneinander abweichen. Zweitens wird die Stabilisierung für Staaten gemessen, die in Krisenzeiten Kredite aufnehmen können. Diese Komponente ist auch Teil des Vorschlags einer Rückversicherung des Bundesfinanzministeriums aus dem Oktober 2018. Die Studie legt nahe, dass beide Kanäle zur stabilisierenden Wirkung einer Arbeitslosen-Rückversicherung beitragen können.
"Eine Rückversicherung kann die starken und noch immer voneinander abweichenden Konjunkturschwankungen im Euroraum dämpfen", so Dominic Ponattu, unser Wirtschaftsexperte. Demnach ließen sich in schlechten Zeiten Einkommensverluste auffangen, sodass nationale Versicherungen in der Krise Beiträge nicht erhöhen oder etwa Zahlungen an Arbeitslose kürzen müssten. Gleichzeitig müssen Länder in guten Zeiten Rücklagen bilden, was vor zu hohen Ausgaben schützen und die Überhitzung der Konjunktur vermeiden kann. Auch unterschiedliche Mindeststandards der nationalen Arbeitslosenversicherung spielen keine Rolle. Denn nicht die Höhe der Arbeitslosigkeit, sondern die Veränderung ist entscheidend. "In einer Rückversicherung subventionieren keineswegs Staaten mit niedriger solche mit hoher Arbeitslosigkeit. Es kommt auf die kurzfristigen Veränderungen der Arbeitslosigkeit an, nicht auf Niveauunterschiede", so Ponattu. Gerade reformwillige Staaten mit flexiblen Arbeitsmärkten könnten daher von der Rückversicherung profitieren.
Zusammenfassung (dt.)
Studie (engl.)
Zusammenfassung (engl.)
Infos
Die Studie „Stabilisierungs- und Verteilungseffekte einer Arbeitslosenrückversicherung für die Eurozone“ hat für den Zeitraum von 2000 bis 2016 die Wirkung einer Rückversicherung für nationale Arbeitslosenversicherungen im Euroraum untersucht. Die Analyse wurde vom ifo Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt. Die Studie verwendet Eurostat-Haushaltsmikrodaten der europaweit durchgeführten Arbeitskräfteerhebung und der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen, um die Arbeitsmarktentwicklungen und daraus resultierende Einkommensschwankungen in den heutigen 19 Mitgliedsländern der Eurozone für den Zeitraum 2000-2016 präzise abzubilden. Im Rahmen einer Simulationsanalyse werden die Stabilisierungs- und Verteilungswirkungen einer Arbeitslosenrückversicherung unter der Annahme berechnet, dass diese zu Beginn des Jahres 2000 eingeführt worden wäre. Dabei wird in der empirischen Analyse unterstellt, dass zwei Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor eine Hilfszahlung aus der Rückversicherung getätigt wird. Zum einen muss die Arbeitslosenquote in einem Mitgliedsland oberhalb des Durchschnitts der vergangenen Jahre liegen. Zum anderen muss innerhalb eines Jahres ein starker Anstieg der Arbeitslosenquote vorliegen. In der Studie werden Schwellenwerte für die benötigte Veränderungsrate der Arbeitslosenquote von ein und zwei Prozentpunkten betrachtet.
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