Titelbild der Studie: Ukraine’s future competitiveness. Karte von Europa mit zur Studie inhaltlich passenden Schlagwörtern

Die Wettbewerbsfähigkeit der Ukraine – Potential und Rolle von Investitionen und Handel

Mitten im Krieg stehen ukrainische und europäische Politikerinnen und Politiker auch vor der Herausforderung, die ukrainische Wirtschaft zu stützen, damit Wiederaufbau und EU-Integration gelingen können. Wirtschaftliche Resilienz ist eine Überlebensfrage und die Grundlage für den Aufholprozess, mit dem die Ukraine zum EU-Binnenmarkt aufschließen will.  

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Miriam Kosmehl
Senior Expert Eastern Europe and EU Neighbourhood

Inhalt

Im Dezember 2023 eröffnete der Europäische Rat den Weg für EU-Beitrittsverhandlungen. Diese historische Entscheidung unterstreicht die Bedeutung von Erweiterungspolitik als geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand, die auch Ungleichheiten zwischen europäischen Ländern verringern und die Lebensbedingungen aller Europäerinnen und Europäer verbessern will. 

Die jüngste Schadens- und Bedarfsanalyse veranschlagt für Wiederaufbau und Erholung der Ukraine in den nächsten zehn Jahren 486 Milliarden US-Dollar (Rapid Damage and Needs Assessment-3 bis 31.12.2023). Neben der militärischen Verteidigung ukrainischer Souveränität ist es deshalb wichtig, die Wirtschaft zu stützen, damit Erholung, Wiederaufbau und EU-Integration gelingen können. 

Hier spielen ausländische Direktinvestitionen eine entscheidende Rolle. Weil sie stabile Währungen in die angegriffene Wirtschaft bringen, will die ukrainische Regierung "Bedingungen [schaffen], um private Investitionen anzuziehen, die den Wiederaufbauprozess beschleunigen und unser Land auf seinem Weg in die EU transformieren werden," so Denys Schmyhal, Premierminister der Ukraine.  

Sechs Wirtschaftssektoren bestimmen mit über die Erholung der Ukraine und ihre EU-Integration  

Die Ungewissheit über das Ende des Krieges macht beide Prozesse komplexer, unterstreicht aber auch die Notwendigkeit, sie als Teil der gemeinsamen Ausrichtung auf eine transformative Modernisierung zu verzahnen. Der Wiederaufbau basierte von Anfang an auf dem Grundsatz "Build back better" und einer „grünen“ Transformation, um gänzlich von russischen Ressourcen unabhängig zu werden. Ziel ist es, Neues zu schaffen (anstatt nur Altes wiederaufzubauen) und vermehrt technologisch fortschrittliche Industriezweige mit höherer Wertschöpfung zu etablieren. 

In diesem kritischen Kontext legen wir dar, was das Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft ausmachen kann: erneuerbare Energien, kritische Mineralien, Metallverarbeitung, die Herstellung von Maschinen sowie Elektro- und Transportausrüstungen, der Agrar- und Lebensmittelbereich sowie IT. Die Studie in Kooperation mit dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) analysiert die für Investitionen besonders geeigneten Branchen und schlägt politische Unterstützungsmaßnahmen vor, die die wirtschaftliche Position der Ukraine stärken können.  

Wirtschaftliche Resilienz vernachlässigen bedeutet, vor russischer Aggression zu kapitulieren 

Im Juni 2024 wird Deutschland die Ukraine Recovery Conference in Berlin ausrichten und damit eine Reihe hochrangiger politischer Veranstaltungen fortsetzen, die der Ukraine gewidmet sind. Die URC2024 will den Geist ukrainischer Reforminitiativen aufrechterhalten, "um weitere internationale Unterstützung für Erholung, Wiederaufbau, Reformen und die Modernisierung der Ukraine zu mobilisieren" und "attraktive Bedingungen für Unternehmen zu schaffen, damit der Privatsektor investiert." 

Denn die Ukraine braucht langfristig eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, die im EU-Binnenmarkt und global mithalten kann. Die von der EU verabschiedete Ukraine-Fazilität soll zwar bis 2027 Finanzmittel für den transformativen Wiederaufbau und Reformen bereitstellen, doch ohne private Investitionen wird der Bedarf nicht zu erfüllen sein. 

Blick in die Zukunft: Die Ukraine als strategischer Partner kann zur Souveränität der EU beitragen  

Die Ukraine hat das Potential für Spitzentechnologien sowie eine umweltfreundliche Wirtschaftspolitik. Einige ihrer Industrien setzen nachhaltige Verarbeitung bereits um. Diese Faktoren gepaart mit Innovationsgeist bedeuten, dass die Ukraine in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung kein Nachzügler bleiben muss. Mit Blick auf europäische Resilienz und wirtschaftliche Sicherheit sind aus EU-Sicht Investitionen und Handel mit gleichgesinnten Partnern wichtiger geworden. Die EU hat ein Eigeninteresse am wirtschaftlichen Aufschließen der Ukraine und sollte strategisch führen, wenn es darum geht, deren industrielles Potential zu erschließen. 

Für die Ukraine ist die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft elementar, weil ihr größtes Kapital ihre Bürgerinnen und Bürger sind, die entscheiden, im Land zu bleiben bzw. zurückzukehren, um den Wiederaufbau und den Weg für eine EU-Vollmitgliedschaft mitzugestalten. 

Jetzt ist die Zeit für die Grundsteinlegung eines erfolgreichen EU-Beitritts 

Die EU durchläuft ihrerseits tiefgreifende Veränderungen in ihrem Bemühen um Durchsetzungsfähigkeit in einem veränderten globalen Kontext. Deshalb muss die Ukraine ihre Transformation im Rahmen einer umfassenderen Angleichung an die EU vollziehen als frühere Beitrittsländer, etwa in Bezug auf grünen und digitalen Wandel.

In ihrer Rede zur Lage der Union 2023 betonte die Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen, dass "die nächste Erweiterung auch ein Katalysator für den Fortschritt sein muss." Diese Perspektive deckt sich mit dem Technologie-, Innovations- und Ressourcenpotential, das die Ukraine in die EU einbringen kann. 

Die Studie richtet sich an politische Entscheidungsträger und alle, die an der Zukunft der Ukraine und ihrer Rolle in Europa interessiert sind. Sie ist die letzte in einer Reihe dreier Analysen mit dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw), darunter "Der wirtschaftliche Wiederaufbau der Ukraine: Territoriale Ungleichheiten überwinden, Regionalpolitik konsolidieren und die Vorteile der EU-Integration nutzen" und "Sonderfall oder nicht? Wie die ukrainische Wirtschaft für den EU-Beitritt aufgestellt ist".

Die Ukraine verfolgt Resilienz und Neuaufbau gleichzeitig. Unsere Studienerkenntnisse können in Strategien und Handlungspläne einfließen, um künftig die einzigartigen Ressourcen der Ukraine zu nutzen. Ihr industrielles, technologisches und innovatives Potential kann zu Stabilität und Sicherheit in Europa beitragen, wenn Strukturreformen vorankommen und Investitionen folgen.

Miriam Kosmehl, Senior Expert Eastern Europe and EU Neighbourhood

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