Europakarte mit einer darüberliegenden Word Cloud zu EU und Ukraine

Ausreißer oder nicht?
Die Wirtschaft der Ukraine und der EU-Beitritt

Über 400 Milliarden Dollar Wiederaufbaukosten bereits 2023 und der andauernde Krieg stellen für den EU-Beitritt der Ukraine scheinbar unüberwindliche Hürden dar. Selbst ohne Kriegsschäden sind die Kosten der EU-Annäherung erheblich. Unsere Studie betont Synergien: Bei konsequenter Steuerung des EU-Beitrittsprozesses fallen Kosten für die wirtschaftliche Modernisierung der Ukraine und den Wiederaufbau nicht doppelt an. Die Ukraine könnte den Konvergenzerfolg der mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder wiederholen, ausgerichtet auf nachhaltige und digitale Entwicklung. Dafür müssen demographische Herausforderungen und Schwächen bei der Anziehung ausländischer Direktinvestitionen gelöst werden.

Foto Miriam Kosmehl
Miriam Kosmehl
Senior Expert Eastern Europe and EU Neighbourhood
Foto Stefani Weiss
Stefani Weiss
Senior Expert EU Governance, Foreign and Security Policy

Inhalt

Schätzungen zufolge belaufen sich die Wiederaufbaukosten für die Ukraine schon jetzt (Stand 2023) auf über 400 Milliarden Dollar, ohne dass ein Ende des Krieges in Sicht wäre. Für ihren EU-Beitritt baut dies unüberwindlich scheinende Hürden auf. Schon ohne Kriegsschäden und -verluste kompensieren zu müssen, ist die finanzielle Belastung der EU-Angleichung für jedes Land erheblich – und ohne Vorbeitrittshilfen und ausländische Investitionen nicht zu bewältigen. Angesichts dieser schwierigen Ausgangslage wollen wir mit unserer Studie die Aufmerksamkeit auf die möglichen Synergien zwischen Wiederaufbau und EU-Beitrittsprozess lenken. Wenn durch die EU und die Ukraine von Anfang an konsequent gesteuert, müssen die Kosten für den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Modernisierung der Ukraine nicht doppelt anfallen, sondern können Hand in Hand gehen.

Vier Herausforderungen auf einmal: Verteidigung, Überleben, Wiederaufbau und EU-Beitritt

Am 28. Februar 2022 stellte die Ukraine den Antrag auf EU-Beitritt, unmittelbar nach der Abwehr des russischen Angriffs auf ihre Hauptstadt Kijiw zu Beginn der von Russland am 24. Februar eingeleiteten Invasion. Am 23. Juni desselben Jahres gewährte der Europäische Rat der Ukraine den Kandidatenstatus, nach befürwortender Stellungnahme der Europäischen Kommission und im Zuge bedeutenden politischen Wandels. Eineinhalb Jahre später, am 14.-15. Dezember 2023, wird der Europäische Rat entscheiden, wie es mit den EU-Ukraine-Beziehungen weitergeht, nun auf der Grundlage des Erweiterungsberichts der Kommission von 2023. Für das ukrainische Volk ist der Weg in die EU das wichtige Licht am Ende des Tunnels. Auch wenn es möglicherweise unklare Vorstellungen darüber gibt, was dies im Einzelnen bedeutet: 60 Prozent der Befragten einer aktuellen Umfrage des Rasumkow-Zentrums sehen ihr Land schon in weniger als 10 Jahren in der EU.

Das strategische Dilemma bewältigen 

Wiederaufbau, Makrofinanzhilfe und EU-Integration folgen unterschiedlichen Logiken. Nothilfe und die schnelle Reparatur lebensnotwendiger Infrastruktur müssen mit "building back better", nachhaltigem Wiederaufbau und der Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft in Einklang gebracht werden, so dass die Ukraine wettbewerbsfähig werden und die Binnenmarktregeln erfüllen sowie im Binnenmarkt bestehen kann. Im Gegensatz zu früheren EU-Beitrittsländern muss sich die Ukraine zudem in eine Gemeinschaft integrieren, die sich ihrerseits neu aufstellen und reformieren muss, um sich in einem veränderten globalen Kontext zu behaupten. 

Auf Synergien aufmerksam machen und Chancenpotential heben 

Idealerweise gehen der Wiederaufbau und der Umbau der ukrainischen Volkswirtschaft Hand in Hand. Voraussetzung hierfür ist, dass der EU-Beitrittsprozess zur Stimulierung von wirtschaftlichem Wachstum und der Modernisierung der Ukraine genutzt wird – und zwar heute bereits in einer Weise, die im Sinne von „building back better“ zur ebenfalls erforderlichen grünen und digitalen Transformation beiträgt. Für unsere Analyse haben wir anhand der ökonomischen Kopenhagen Kriterien, deren Erfüllung Voraussetzung für den EU-Beitritt bleibt, unabhängig von sich entwickelnden EU-Politiken, gemessen, wie es um die Wirtschaft der Ukraine bestellt ist, zu Beginn ihres Beitrittsprozesses im Vergleich zu den Ausgangslagen der seit 2004 der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen Ländern sowie der aktuellen Kandidaten. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, die wirtschaftlichen Potentiale und Defizite der Ukraine abzubilden, die im Prozess des Wiederaufbaus wie der Vorbereitung auf den Beitritt genutzt und weiterentwickelt bzw. behoben werden müssen.  

Datenbasierte Gegenüberstellung: Im Ergebnis gemischt, aber ermutigend 

Die Ukraine ist kein Außenseiter. Sie zeigt Resilienz und politische Stabilität, die für wirtschaftliche Entwicklung entscheidend sind. Vor der umfassenden Invasion 2022 hatte sie makrofinanzielle Stabilität erreicht. Ihr größtes wirtschaftliches Defizit ist ihre geringe Produktivität. Ein wesentlicher Aspekt für den Erfolg von Wiederaufbau und Fortschritt besteht darin, dass die Menschen zurückkehren, die vor dem Krieg geflohen sind. Schlüsselsektoren wie Landwirtschaft und Informationstechnologie zeigen das mögliche Wachstumspotential. Dafür ist entscheidend, die bisherige Schwäche bei der Anziehung ausländischer Investitionen zu überwinden. Ebenso wichtig ist die Reform der institutionellen Rahmenbedingungen. 

Eine gut konzipierte und durchgeführte EU-Beitrittsstrategie könnte als entscheidender Katalysator für eine grundlegende Transformation der Ukraine dienen. Die ukrainische Wirtschaft könnte die Konvergenzerfolge der mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten nicht nur nachahmen, sondern zudem nachhaltige und grüne Fortschritte machen. 

Studie