""

EU-Binnenmarkt, Wohlstand und Bevölkerungsgröße – eine Analyse europäischer Länder und Regionen

Der europäische Binnenmarkt bildet nicht nur den größten gemeinsamen Wirtschaftsraum der Welt, sondern bringt auch erhebliche Einkommensgewinne mit sich: Durch den Abbau von Handelshemmnissen kann der Wettbewerb gestärkt und die Produktivität gesteigert werden. Dies kann wiederum zu Einkommensgewinnen führen und somit auch die Attraktivität der am Binnenmarkt teilnehmenden Länder als Wohn- und Arbeitsort erhöhen.

Ansprechpartnerin

Theoretisch würde der Binnenmarkt – wenn auch indirekt – außerdem noch eine weitere Komponente beeinflussen, die das Wirtschaftswachstum fördert, aber bei der Untersuchung der Vorteile der EU-Integration oft vernachlässigt wird: die Bevölkerungsgröße. Das vorliegende Strategiepapier simuliert Veränderungen der Bevölkerungsgröße für den hypothetischen Fall einer Auflösung des Binnenmarkts, um die „second round“-Effekte des Binnenmarkts auf das Wirtschaftswachstum abzuschätzen.

Ein Großteil der aktuellen Debatte um den EU-Binnenmarkt dreht sich um seinen direkten wirtschaftlichen Wert. Sie konzentriert sich hauptsächlich auf Produktivität, Wettbewerb und letztlich auf Wohlfahrtseffekte. Die vorliegende Publikation diskutiert, inwieweit sich diese Wohlfahrtseffekte auch auf die Bevölkerungsgröße der am Binnenmarkt teilnehmenden Länder auswirken können. Konkret verwenden wir ein Gravitationsmodell des Handels, um die Auswirkungen von Wohlfahrtsänderungen auf die Bevölkerungszahl in ganz Europa zu simulieren, unter der Annahme, dass der Binnenmarkt plötzlich aufgelöst werden würde. Diese hypothetischen Veränderungen der Bevölkerungsgröße können als Ergebnis der Standortverschiebungen der Bürger aufgrund von Wohlfahrtsveränderungen infolge der Abschaffung des Binnenmarkts und damit höherer Handelskosten gegenüber Ländern, die nicht zum gemeinsamen Wirtschaftsraum gehören, interpretiert werden.

Es ist anzumerken, dass die simulierte Bevölkerungsveränderung einer hypothetischen Entscheidung ähnelt, die ausschließlich auf Veränderungen an Wohlfahrtsleistungen beruht. Selbst wenn Menschen darauffolgend ihren Wohn- und Arbeitsort wechseln wollen würden, könnten rechtliche und andere Hürden sie daran hindern. Daher sind die angegebenen Schätzungen als eine Obergrenze des Bevölkerungsrückgangs anzusehen, den ein Land oder eine Region als Folge der Auflösung des Binnenmarkts erleben könnte. Die relativen Unterschiede in den Verlusten erlauben es uns jedoch, die unterschiedlichen Auswirkungen zwischen den Ländern und Regionen zu vergleichen.

Die vorliegende Simulation zeigt, dass eine Aufhebung des Binnenmarktabkommens die Handelsintegration in ganz Europa gegenüber dem Rest der Welt deutlich schwächen würde. Wohlfahrt und Bevölkerungsrückgang sind miteinander verbunden: Die Simulation deutet darauf hin, dass alle Länder und Regionen, die sich derzeit im Binnenmarkt befinden, einen Teil ihrer Bevölkerung verlieren würden, wenn ihre Politik der Handelsliberalisierung aufgegeben würde. Die Höhe der Verluste ist sehr unterschiedlich: Regionen, die am meisten vom Binnenmarkt profitieren (z. B. in der Schweiz, Österreich, Irland, Norwegen und Deutschland), würden eine deutliche Verringerung der Bevölkerungszahl verzeichnen. Dagegen würde sich die Bevölkerungsgröße in den Regionen der europäischen Peripherie (z. B. im Südosten) im Falle einer Auflösung des Binnenmarkts kaum verändern, wenn dieser abgeschafft werden würde. Auch die Unterschiede innerhalb der Länder sind bemerkenswert: Deutschland und Frankreich würden ein starkes Ost-West-Gefälle erleben, während regionale Unterschiede innerhalb Italiens und Großbritanniens weitgehend einem Nord-Süd-Gefälle ähneln würden.

Die Karte zeigt die Heterogenität in Bezug auf die prognostizierten Bevölkerungsverluste auf NUTS2-Ebene. Hierbei zeigen sich die unterschiedlichen Muster in den einzelnen Ländern: Insgesamt ähneln die Bevölkerungsverluste einem Kern-Peripherie-Muster mit starken Maximalverlusten, die sich auf eher wohlhabende Länder im Kern Europas konzentrieren; südliche, östliche und westliche Regionen in der Peripherie würden kleinere Anteile ihrer Bevölkerung verlieren. Innerhalb der Länder würde sich beispielsweise ein starker Ost-West-Unterschied bei den maximalen Verlusten innerhalb Frankreichs zeigen – vor allem auch deshalb, weil der Osten des Landes näher an größeren Märkten wie Deutschland und Italien sowie an besonders offenen Volkswirtschaften wie der Schweiz, Luxemburg und Belgien liegt. In Spanien wären die prognostizierten Bevölkerungsverluste in wohlhabenderen Regionen wie Katalonien und dem Baskenland höher, im Süden des Landes dagegen viel geringer. Italien weist einen starken Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden (Mezzogiorno) auf, wobei die Bevölkerungsverluste im Norden viel höher ausfallen würden.

Die Simulationen zeigen mehrere Erkenntnisse auf, die auch für die Politik von Relevanz sind. Erstens, und im Einklang mit der Berechnung wirtschaftlichen Wachstums, stellt die Bevölkerungsgröße und die Anzahl der Arbeitskräfte einen Wachstumstreiber dar. Die vorliegende Analyse deutet daher darauf hin, dass der Binnenmarkt nicht nur aufgrund von Handel mehr Gewinne generiert, sondern auch zu einem mittelfristigen Wachstum beitragen könnte, da er – verglichen mit dem hypothetischen Szenario einer Auflösung des Binnenmarktes – Arbeitskräfte aus der übrigen Welt anzieht. Dieser potenzielle "second round"-Effekt scheint angesichts der alternden Erwerbsbevölkerung in vielen Mitgliedern des Binnenmarkts kritischer zu sein. Darüber hinaus fällt die Mobilität hochqualifizierter Arbeitskräfte höher aus, was darauf hindeutet, dass besonders qualifizierte Arbeitskräfte geneigt wären, ihren bisherigen Arbeitsmarkt zu verlassen, wenn der Binnenmarkt aufgelöst werden sollte. Die Ergebnisse unterstreichen, dass die Vollendung des Binnenmarkts für die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in der EU eine Priorität sein sollte, da sie zusätzliche Gewinne erzielen kann, und dies sowohl im Sinne von „first round“-Gewinnen (jene durch Handel) als auch „second round“-Gewinne (Bevölkerungswachstum). Daher sollten die derzeitigen Strategien für den digitalen Binnenmarkt und die Kapitalmarktunion rasch umgesetzt werden. Die Vertiefung des Binnenmarkts würde zu mehr Produktivitäts- und letztlich auch Wohlstandsgewinnen führen. Dies wiederum würde noch mehr Arbeitskräfte anziehen, was zu einem stärkeren Wachstumseffekt in der zweiten Runde führen würde.