Worum es geht
Die Effekte des Strukturwandels und die damit verbundene Transformation des Arbeitsmarkts machen Weiterbildung über den gesamten Erwerbsverlauf immer wichtiger: Berufsbilder wandelnd sich und neue Berufsbilder entstehen, aufstrebende Geschäftsfelder (z. B. Elektromobilität) erfordern neue Kompetenzen. Über alle Qualifikationsstufen hinweg hat der Anteil der Tätigkeiten, die potenziell von Computern übernommen werden können, zugenommen (ob dies tatsächlich passiert, hängt von weiteren Faktoren ab). Wenn die Halbwertszeit von Wissen und Fähigkeiten durch den technologischen Wandel kürzer wird, ist Weiterbildung die Antwort: Zukünftig werden sich viele Beschäftigte über den gesamten Erwerbsverlauf weiterbilden müssen, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und den Fachkräftebedarf der Wirtschaft zu sichern. Der Blick auf die Zahlen zeigt jedoch, dass im internationalen Vergleich die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland gering ist und abhängig von Alter, Bildungsgrad und weiteren Faktoren stark variiert.
Darum gilt es, Deutschlands weiterbildungs- und arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium auszubauen, um den skizzierten Wandel auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu gestalten, indem Beschäftigte über den gesamten Erwerbsverlauf neue Kompetenzen erwerben und ihre Beschäftigungsfähigkeit erhalten. Die Nationale Weiterbildungsstrategie und der Koalitionsvertrag liefern wichtige Impulse, deren konkrete Ausgestaltung jetzt angegangen werden sollte.
Das ist die aktuelle Situation
Analyse
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Die betriebliche Weiterbildung kann auf einem anerkannten und gut funktionierenden System der beruflichen und akademischen Erstausbildung aufbauen.
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Betriebliche Weiterbildung funktioniert dort gut, wo Personalentwicklung im direkten betrieblichen Interesse ist und die Ressourcen/der personelle Spielraum dafür vorhanden sind.
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Durch das gut etablierte und – in bestimmten Fällen – umfassende System der Finanzierung von individueller (Aufstiegs-) Weiterbildung (BAföG und Aufstiegs-BAföG) werden formale, längerfristige Weiterbildungen gefördert.
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In der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurde mit dem noch jungen Qualifizierungschancengesetz und dem Arbeit-von-morgen-Gesetz ein wichtiger Schritt zur Förderung der Weiterbildung von vom Strukturwandel bedrohten Beschäftigten unternommen.
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Es existieren auf regionaler Ebene oder in Form von Modellprojekten vielfältige Weiterbildungsinitiativen und Förderinstrumente, welche häufig die im internationalen Umfeld diskutierten Ansätze zu einem gewissen Grad umsetzen. (Da sie in der Praxis wenig durchgängig und unzugänglich bleiben, ist ihre Relevanz insbesondere für weiterbildungsferne Individuen begrenzt).
Dieser Bezugsrahmen für die Bewertung und Einordnung existierender institutioneller Arrangements hilft, den Blick auf die Stärken und Schwächen des deutschen Systems zu schärfen.
Zugang und Beratung
Unübersichtliches, fragmentiertes Beratungssystem, das daher für viele Gruppen (Geringqualifizierte, Randbelegschaften, ...) intransparent ist und diese nicht erreicht, auch wenn neuere Initiativen z. B. im Rahmen der Nationalen Weiterbildungsstrategie Beratungsangebote ausbauen und vernetzen.
Feststellung von vorhandenen Qualifikationen und Qualifikationsbedarfen
Es fehlt für inländische Erwerbspersonen ein System zur Validierung vorhandener im Berufsleben erworbener Kompetenzen, die nicht durch formale Abschlüsse zertifiziert sind.
Identifikation von Entwicklungspfaden
Insgesamt nur eingeschränkt vorhanden, begrenzte Modularität. Dadurch fehlt es auch an Aufstiegs- und Entwicklungsperspektiven für Menschen ohne formale Qualifizierung.
Zeitliche Ressourcen
Für Erwerbstätige nur sehr eingeschränkt vorhanden, ohne umfassende Freistellungsrechte für die berufliche Weiterbildung.
Finanzierung
Teilweise vorhanden, aber häufig selektiv und fragmentiert, insbesesondere keine Lohnersatzlösung für Erwerbstätige über die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik hinaus.
Qualitätssicherung
Nicht durchgängig gewährleistet, am stärksten in der Arbeitsmarktpolitik.
Handlungsbedarfe
* Da bei Qualitätssicherung und der Feststellung von Qualifikationsbedarfen vergleichsweise wenig Handlungsbedarf gesehen wird, geht diese Kurzfassung nicht weiter darauf ein. Die Studie arbeitet jedoch die Notwendigkeit, Transformationshilfen im Strukturwandel weiter zu entwickeln, heraus. Daher wird dies als Dimensionen-übergreifender Handlungsbedarf hier aufgeführt.
Insbesondere Impulse aus Dänemark und Österreich bieten sich an, das deutsche System mit seinen spezifischen Ausgangsbedingungen zu bereichern.
Die Empfehlung bestimmter Reformen hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie
im gegebenen Umfeld anschlussfähig und prinzipiell machbar erscheinen und genügend Unterstützung gewinnen können. So werden im Folgenden Anstöße gegeben, die wirksam werden können, ohne zuerst in langwierigen Prozessen das Gesamtsystem und seine Governance umbauen zu müssen. Aus den Erfahrungen des Auslands wird abgeleitet, worauf bei der Umsetzung in Deutschland zu achten ist.
Das braucht es jetzt:
Darauf ist zu achten:
- Zugänge, Ansprache und Unterstützung müssen sich auch an jene Gruppen wenden, die bisher – bedingt durch verschiedene Barrieren – wenig an Weiterbildung teilnehmen. Die aktuell in Deutschland im Aufbau befindlichen Beratungsstrukturen und die Online-Angebote zur Weiterbildung gehen in diese Richtung, müssen sich aber in der Praxis noch bewähren und in der Lebenswirklichkeit der Menschen ankommen.
- Entscheidend ist der erste Zugang aus dem Arbeitsumfeld heraus, also durch betriebliche Akteure (Personalabteilung, Betriebsräte etc.). Ergänzend könnte insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen, die oft weniger verbandlich organisiert und mitbestimmt sind und wo die Personalentwicklung weniger formal organisiert ist, eine „aufsuchende“ Beratung und Orientierung etwa durch die Bundesagentur für Arbeit oder ähnliche Akteure in Frage kommen, um eine erste Sensibilisierung für Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten im Sinne der Beschäftigten und des Unternehmens zu erreichen.
- Die neuen Angebote müssen den Kern einer Öffentlichkeitsarbeit bilden, die über leicht nutzbare Online-Angebote und Beratungsmöglichkeiten eine hohe Reichweite herstellt. Die Existenz paralleler Informationsplattformen sollte nach Möglichkeit vermieden bzw. durch eine Integration sinnvoll gestaltet werden. Der Bekanntheitsgrad dieser Angebote sollte durch gezielte Kampagnen gestärkt werden.
Impulse aus: Dänemark, Österreich, Schweiz
Darauf ist zu achten:
- Informationen über Validierungsverfahren müssen für die Akteure leicht zugänglich sein.
- Die über Validierung erhaltenden Zertifikate müssen Zugang zu Bildungsangeboten eröffnen, für die der/die Arbeitnehmer:in die formalen Zugangsvoraussetzungen nicht erfüllt.
- In Kompetenzfeststellungsverfahren zertifizierte Kompetenzen sollten einen Nutzen für anschließende Bildungsunterfangen haben, z. B. die Dauer einer anschließenden Berufsausbildung verkürzen oder als Teilqualifikation anerkannt werden.
- Validierung erfordert häufig eine Einzelfallprüfung, die transparenten Kriterien gehorchen sollte.
- Deutschland hat im Kontext von Flucht und Migration bereits Erfahrungen mit solchen Instrumenten gesammelt, die auf die Gesamtbevölkerung übertragen werden könnten.
Impulse aus: Dänemark
Darauf ist zu achten
- Ein deutschlandweites System anerkannter Teil- und Zusatzqualifikationen sollte jeder Person ermöglichen, verschiedene Elemente, die zu individuellen Erfahrungen und Neigungen, aber auch zur betrieblichen und arbeitsmarktlichen Umgebung passen, zu absolvieren und ggf. in der Folge zu kombinieren.
- Mit der Option, ergänzende, zertifizierbare Qualifikationen zu erwerben, könnten Individuen so ihr Kenntnisprofil um einen oder mehrere Bausteine erweitern, ohne direkt einen vollständig neuen Beruf erlernen zu müssen. Es sollte aber möglich sein, diese Bausteine im Zeitverlauf ergänzen zu können. In Dänemark können z. B. Module aus sehr verschiedenen Bildungskontexten zu einem formalen Abschluss kombiniert werden.
- Das modulare Weiterbildungssystem sollte aufbauen auf das solide System der Erstausbildung in Deutschland. Menschen über 25 Jahren, die nicht über einen anerkannten Berufsabschluss verfügen, könnten so Berufsabschlüsse auch in Teilen nachholen.
- Die Zertifikate müssen bundesweit von allen Akteuren anerkannt sein.
Impulse aus: Dänemark und Österreich
Darauf ist zu achten
- Kriterium zur Gewährung sollte die Formulierung eines individuellen Weiterbildungsziels und der Erwerb zertifizierbarer Qualifikationen sein, die über den derzeitigen Betrieb hinaus genutzt werden können und auf die später möglicherweise mit weiteren Bausteinen aufgebaut werden kann.
- Muss offen konzipiert sei, soll ein breites Spektrum an Weiterbildungsmaßnahmen abdecken können (z. B. nicht nur Aufstiegsfortbildung oder das Nachholen von Abschlüssen fördern).
- Soll allen Beschäftigten unabhängig vom formalen Bildungsabschluss zur Verfügung stehen.
- Soll sowohl in Teilzeit als auch in Vollzeit möglich sein: Weiterbildungsteilzeiten ermöglichen, die Beziehung zum Arbeitgeber aufrecht zu erhalten, und machen die Aufnahme von Weiterbildung dadurch attraktiver.
- Eine Mindest- und Höchstdauer sollte gegeben sein. Die Bildungs(teil)zeit sollte jedoch in der Dauer verlängerbar sein, um den umfassenden Erwerb von Qualifikationen auch in sequentieller Weise zu ermöglichen.
- Die Gewährung eines bedingten Rechtsanspruchs (was bedeutet, dass der Antrag vom Arbeitgeber nicht ohne Bezug auf objektive Gründe abgelehnt werden kann) auf eine solche Freistellung würde dazu beitragen, das Instrument zu verankern.
Impulse aus: Österreich
Darauf ist zu achten
- Um der Lebenslage von abhängig Beschäftigten in der Mitte des Berufslebens entgegen zu kommen, sollte eine Lohnersatzleistung ohne Bedürftigkeitsprüfung bezahlt werden, denkbar in Höhe des Arbeitslosengelds.
- Um Geringverdiener:innen oder Teilzeitbeschäftigte mit diesem Instrument noch besser zu erreichen, können höhere Lohnersatzraten oder Mindestzahlungen für diese Gruppen vorgesehen werden.
- Die Finanzierung ausgedehnter, mehrjähriger Qualifizierungsphasen könnte durch ein öffentlich finanziertes Weiterbildungsstipendium gefördert werden. Dies würde (über das Arbeit-von-morgen-Gesetz und das Qualifizierungschancengesetz hinaus) eine breitere Öffnung und einen individuellen Zugang für alle Erwerbstätigen unabhängig von der Antragsstellung der Betriebe und dem konkreten Problemdruck bedeuten. Ein mögliches Weiterbildungsstipendium könnte sich entweder als ein offenes BAföG-Modelle darstellen wie im Koalitionsvertrag angedeutet oder aber angelehnt an das österreichische Fachkräftestipendium/ das schwedische Erwachsenenstipendium umgesetzt werden. Dieses könnte auch von Selbstständigen genutzt werden. Fördersätze bzw. Darlehensanteile könnten danach differenziert werden, inwieweit Engpässe am Arbeitsmarkt adressiert werden.
- Ansparkonten wie das im Koalitionsvertrag angedeutete Freiraumkonto können dazu genutzt werden, andere Leistungen zu ergänzen. Sie stellen alleine keine ausreichende Finanzierung für umfassende Weiterbildung dar.
Impulse aus: Österreich, Schweden, Frankreich
Darauf ist zu achten:
- Wenn es regional oder sektoral innerhalb kurzer Zeit zu massiven Ein- oder Umbrüchen kommt, sind intensivere und koordinierte Weiterbildungsanstrengungen notwendig. Arbeitsstiftungen und Umstrukturierungsbeiräte nach Art Österreichs oder Schwedens können hilfreiche Hinweise liefern.
- Das in Deutschland existierende Instrument der Transfergesellschaften sollte dahingehend reformiert werden, dass Beschäftigte langfristigere, strategischere und stärker auf Weiterbildung und damit den Übergang in eine neue Aktivität ausgerichtete Unterstützung erhalten, z. B. durch Kompetenzanerkennung. Das bedeutet im Vergleich zum bisherigen Stand in Deutschland beispielsweise einen längeren Zeitraum für die Förderung von Transfermaßnahmen.
- Wichtig ist hier die Kofinanzierung durch die beteiligten Parteien (insbesondere Unternehmen und öffentliche Hand), die Entwicklung jeweils passender Weiterbildungsangebote für die Betroffenen und die Ausrichtung an realistischen Entwicklungsoptionen im regionalen oder beruflichen Umfeld.
- Die Umstrukturierung sollte tendenziell auf Pfade von abgebenden hin zu aufnehmenden Unternehmen ausgerichtet sein. Wenn möglich, sollte nach erfolgreicher Weiterbildung und betrieblicher Transformation auch ein Verbleib im Unternehmen erreicht werden.
Impulse aus: Österreich, Schweden
Langversion
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Weiterführende Literatur
- Eichhorst, Werner und Marx, Paul 2022: Reform der beruflichen Weiterbildung in Deutschland – Impulse aus dem Ausland. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
- BMBF 2021: Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2020: Ergebnisse des Adult Education Survey — AES Trendbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin.
- Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 2020: Über Teilqualifikationen erfolgreich in den Beruf. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
- Bönke, Timm; Hammer, Luisa und Hügle, Dominik 2022: Berufsabschluss durch Weiterbildung. Zur Wirksamkeit beruflicher Nachqualifizierung. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
- Burk, Björn 2020: Leitfaden zur Zertifizierung von Teilqualifikationen in Kleingruppen. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
- Dengler, Katharina und Matthes, Britta: Folgen des technologischen Wandels für den Arbeitsmarkt. Auch komplexere Tätigkeiten könnten zunehmend automatisiert werden. IAB Kurzbericht 13/2021, Nürnberg.
- European Commission/EACEA/Eurydice (2021): Adult education and training in Europe: Building inclusive pathways to skills and qualifications. Eurydice Report. Publications Office of the European Union, Luxembourg.
- Mühge, Gernot 2017: Qualifizierung und Teilqualifizierung in Transfergesellschaften. Study 371, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.
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© April 2022 Bertelsmann Stiftung
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