Mehrere Jugendliche

Teilhabegeld würde die Kinderarmut in Deutschland erheblich reduzieren

Die Einführung des Teilhabegeldes würde Hunderttausende Kinder und Jugendliche aus der Armutsfalle befreien. Das zeigen Modellrechnungen des ifo Instituts. Das Konzept ist ein konkreter Vorschlag zur Ausgestaltung einer von der Ampelkoalition angekündigten Kindergrundsicherung.

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Anette Stein
Director
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Antje Funcke
Senior Expert Familie und Bildung
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Sarah Menne
Senior Project Manager

Inhalt

Mit der Einführung eines Teilhabegeldes als Form der Kindergrundsicherung ließe sich die Kinderarmut in Deutschland wirksam bekämpfen. Das belegen Modellrechnungen von Maximilian Blömer vom ifo Institut, die in unserem Auftrag die Auswirkungen eines Teilhabegeldes auf die Einkommens- und Erwerbssituation betroffener Familien sowie auf den Bundeshaushalt in verschiedenen Varianten simuliert haben. Die Maßnahme würde insbesondere Familien mit geringem Einkommen; Familien mit mehreren Kindern sowie Alleinerziehenden zugutekommen. In Zahlen ausgedrückt, wäre es möglich, die allgemeine Armutsrisikoquote um bis zu 3,4 Prozentpunkte sowie die Armutsrisikoquote von Kindern um bis zu 11 Prozentpunkte zu senken. Übertragen auf die derzeitige Situation in der Bundesrepublik, entspräche das einer Zahl von über einer Million Kinder, die nicht länger von Armut gefährdet wären.

„Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik ist das ein untragbarer Zustand. Insofern ist es ein Meilenstein, dass die Ampelkoalition sowohl die Einführung einer Kindergrundsicherung vereinbart hat als auch das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern neu berechnen lassen möchte. Nun geht es darum, die richtigen Konzepte für die Umsetzung zu diskutieren und sie schnellstmöglich auf den Weg zu bringen. Wir sind überzeugt, dass unser Vorschlag eines Teilhabegeldes spürbare Verbesserungen für Millionen Kinder und ihre Familien bringen würde“, sagt Anette Stein, Director bei der Bertelsmann Stiftung.

Faire Chancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien

Das Modell des Teilhabegelds ist von uns in Zusammenarbeit mit einer interdisziplinären Expert:innenrunde sowie einem Jugendbeirat erarbeitet worden. Ziel ist es, Kindern aus einkommensschwachen Familien faire Chancen auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Das Teilhabegeld ersetzt und bündelt bestehende Leistungen, zum Beispiel Kindergeld und Kinderzuschlag, und löst Kinder aus dem Transfersystem des Sozialgesetzesbuches (SGB) II heraus. Es soll steuerfinanziert werden und wird mit steigendem Einkommen der Eltern abgeschmolzen. In Anspruch nehmen können es Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre beziehungsweise bis 25 Jahre, sofern sie sich noch in der Ausbildung befinden. Der steuerliche Kinderfreibetrag bleibt bestehen. Mehrbedarfe, etwa bei getrenntlebenden Familien, Beeinträchtigungen oder Krankheit werden zusätzlich abgedeckt.

Um die angemessene Höhe des Teilhabegeldes zu bestimmen, empfehlen wir der Politik, neben bereits vorliegenden Daten eine umfassende Bedarfserhebung mit und für Kinder und Jugendliche durchzuführen. Sie soll ermitteln, was Kinder und Jugendliche für gutes Aufwachsen und faire Bildungschancen je nach Altersgruppe in Deutschland benötigen. Laut Bertelsmann Stiftung ist es ratsam, junge Menschen hieran direkt zu beteiligen. Denn „Kinder und Jugendliche sind die Expert:innen ihrer eigenen Lebenswelt und wissen oftmals selbst am besten, wo ihre Bedürfnisse liegen“, so Anette Stein. Die Bedarfserhebung sollte systematisch und in regelmäßigen Abständen erfolgen, um das Teilhabegeld der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen anpassen zu können.

Das Teilhabegeld stellt eine tiefgreifende sozialpolitische Reform dar, weshalb sich der Finanzierungsbedarf in einer entsprechenden Größenordnung bewegt. Den Berechnungen des ifo zufolge wären, je nach Ausgestaltung, Ausgaben von 10 bis 24 Milliarden Euro pro Jahr erforderlich. Da das Teilhabegeld das verfügbare Einkommen vieler Familien erhöhen würde, ist davon auszugehen, dass einige Elternteile ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder ganz aufgeben und damit mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können. Wie die Simulationen des ifo zeigen, würde das Arbeitsangebot in Deutschland um 400.000 bis 630.000 Vollzeitstellen abnehmen. Bezieht man diesen Rückgang der Erwerbstätigkeit mit ein, würde das Teilhabegeld mit jährlichen Kosten von 20 bis 37 Milliarden Euro einhergehen. Dabei gilt: Je langsamer das Teilhabegeld mit dem Einkommen der Eltern abgeschmolzen wird, desto geringer sind die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

„Bekämpfung von Kinderarmut gibt es nicht zum Nulltarif“

„Die Bekämpfung von Kinderarmut gibt es nicht zum Nulltarif. Die Investitionen für das Teilhabegeld wären jedoch gut angelegt – und zwar nicht trotz, sondern wegen Corona“,  sagt Anette Stein.

Denn insbesondere arme Kinder und Jugendliche gehören zu denjenigen Gruppen, die am meisten unter der Pandemie zu leiden haben und trotzdem kaum gehört werden. Sei es mit Blick auf psychische Belastung, Bildungsgerechtigkeit oder fehlende Kontakte zum Freundeskreis. „Wir müssen Kindern und Jugendlichen endlich bessere Bedingungen für gute Bildung und soziale Teilhabe ermöglichen“, so die Expertin. Sonst werde die Gesellschaft auf längere Sicht einen deutlich höheren Preis zahlen müssen, vor allem in Form von späteren Sozial- und Transferleistungen. Die Einführung einer Kindergrundsicherung in Form eines Teilhabegeldes sei daher laut Stein „eine Investition in die Zukunft“.