Europa steht digital unter Druck. Chinas autoritäres Modell und die Marktmacht der USA gelten als Wettbewerbsvorteile im digitalen Wandel. Ein oft gehörter Vorschlag: Europa muss seinen eigenen, einen dritten Weg gehen, der dem Gemeinwohl eine höhere Priorität einräumt als in den USA, zugleich aber ein hohes Maß an individueller Freiheit wahrt – anders als in China. Innovation und Ethik sollten auf diesem dritten Weg miteinander vereinbar und so ein europäisches Alleinstellungsmerkmal werden. Nicht wirtschaftliche Zweckbündnisse, sondern das Wertebündnis müssten nun im Vordergrund stehen, um im digitalen Wandel zu bestehen.
Je mehr in Europa Thesen zur eigenen Souveränität und Handlungsfähigkeit, zur Durchsetzung eigener Werte aufgestellt werden, desto drängender wird die besagte Frage: Welche Werte sind dies eigentlich? Sind die europäischen Werte eine Konstante im digitalen Wandel oder unterliegen sie ihrerseits durch die Digitalisierung wesentlichen Veränderungen?
Dr. Annegret Bendiek und Prof. Dr. Jürgen Neyer haben mit ihrem Konzept der „Smarten Resilienz“ einen vielversprechenden Ansatz zur Verortung der europäischen Werte in der Digitalisierung ausgearbeitet. Sie lässt sich als eine Form der Widerstandsfähigkeit verstehen, die auf die technologische Herausforderung des digitalen Wandels nicht mit dem bloßen Versuch der Bewahrung oder Wiederherstellung eines bereits vergangenen Zustands reagiert, sondern Lernfähigkeit und Adaption beinhaltet.
Die europäische Werteordnung gibt nicht den Wert der Freiheit auf, sondern reinterpretiert ihn als Eröffnung neuer Gestaltungsspielräume; das Verständnis von Freiheit in Europa individualisiert sich zunehmend. Auch Verantwortung wird zunehmend als individuell zu gestaltender Wert verstanden und drückt sich in neuen Formen gesellschaftspolitischen Engagements aus, die es so zu analogen Zeiten noch gar nicht gegeben hat. Nachhaltigkeit hat als Wert heute eine zentrale Bedeutung erhalten, auch wenn seine Praxis noch immer höchst defizitär ist. Auch die Idee von Sicherheit löst sich nicht auf, sondern hat mit der digitalen Transformation eine neue Bedeutung als Schutz von Infrastrukturen erhalten. Insgesamt verschiebt sich das politische Verhältnis zwischen den vier Werten der Freiheit, Verantwortung, Nachhaltigkeit und Sicherheit im digitalen Wandel zugunsten der Sicherheit.
Das Konzept der „Smarten Resilienz“ bietet den vielbeschworenen Europäischen Werten einen Interpretations- und Handlungsrahmen, aus dem sich klare politische Schlussfolgerungen ableiten lassen. Wenn Europa digitalpolitisch handlungsfähiger werden möchte, sind solche konkreten Antworten und Zielsetzungen dringend nötig. Europas Digitalpolitik darf nicht länger von unterschiedlichen nationalen, sektoralen und reaktiven Versatzstücken geprägt werden. Ein erfolgversprechender Europäischer Weg braucht ein konsistentes Gesamtkonzept, dessen Maßnahmen gezielt auf die Stärkung Europäischer Werte einzahlen.
Die Expertise ist als Teil der einjährigen Exploration „Digitalpolitik Gestalten – Towards a Fair Digital Society?“ entstanden, mit der die Bertelsmann Stiftung seit Sommer 2019 wesentliche Stellschrauben für eine teilhabeförderliche Digitalpolitik in Europa identifiziert hat. In der gleichen Reihe sind bereits zwei Analysen über Digitale Governance (Wagner und Ferro 2020) sowie über Europäische Digitalstrategien im Vergleich (Helmer 2020) erschienen.
Wie Europas Werte in der Digitalisierung gestärkt werden können
In der Digitalisierung sollen Europäische Werte bewahrt werden – so ist es oft zu hören. Doch welche Werte genau machen Europa eigentlich aus? Und wie verändern sich diese selbst in digitalen Zeiten? Mit ihrer heute von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichten Expertise “Smarte Resilienz“ geben Dr. Annegret Bendiek und Dr. Jürgen Neyer erste Antworten auf diese Fragen und zeigen mögliche Schlussfolgerungen auf.