Die Zahl der älteren und pflegebedürftigen Menschen in Deutschland steigt. Bereits heute fehlen Pflegekräfte und der Druck auf das System wird sich durch die demografische Entwicklung weiter verschärfen. Durch strukturelle Probleme kommt es zudem teilweise zu einer Unter- oder Fehlversorgung und Pflegekräfte leiden häufig unter belastenden Arbeitsbedingungen. Obendrein sinkt das Familienpflege- potenzial – ebenfalls demografisch bedingt, aber auch aufgrund sich wandelnder Familienverhältnisse. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn brachte die Situation treffend auf den Punkt, als er im November 2020 feststellte: „Wie wir gute Pflege sichern, ist die soziale Frage der 20er Jahre.“
Soziale Innovationen als Chance für eine zukunftsfähige Pflege
Das Pflegesystem in Deutschland steht vor fundamentalen Herausforderungen: Demografische Trends, aber auch strukturelle Probleme im System sowie sich wandelnde Familienverhältnisse stellen die Pflege bereits heute und in naher Zukunft auf die Probe. Soziale Innovationen können hier eine Chance sein - das zeigt unsere Studie anhand von Beispielen aus der Praxis.
Inhalt
Soziale Innovationen als Chance
Um eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung in Deutschland auch in Zukunft zu sichern, braucht es mehr Innovation. Dabei stehen in dieser Studie nicht – wie ansonsten beim Thema „Innovation“ so oft – moderne Technologien im Fokus, sondern der Schwerpunkt liegt auf sozialen Innovationen. Der Begriff bezeichnet die neuartige Gestaltung sozialer Praktiken mit dem Ziel, dadurch Probleme besser zu bewältigen und Bedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen angemessener zu befriedigen, als dies durch bestehende Praktiken möglich ist.
Unsere Studie bringt das Konzept der sozialen Innovation mit der ambulanten Langzeitpflege zusammen und zeigt anhand konkreter Praxisbeispiele, wie strukturelle Probleme in der Pflege mit Hilfe von sozialinnovativen Ansätzen erfolgreich adressiert und die Bedürfnisse professionell Pflegender, Pflege-empfangender sowie pflegender An- und Zugehöriger besser befriedigt werden können.
Soziale Innovationen in der ambulanten Pflegepraxis
Die Studie adressiert soziale Innovationen insbesondere in den folgenden drei Handlungsfeldern der ambulanten Langzeitpflege: der Arbeitsorganisation, der Gestaltung des Pflegeprozesses und der lokalen Infrastruktur im sozialen Umfeld der Pflege. Neben den Abläufen in der professionellen Pflege werden aber auch Praxisbeispiele etwa zur Vereinbarkeit von (informeller) Pflege und Beruf oder zur Beratung bezüglich des Umgangs mit Demenz thematisiert.
Mit Blick auf die Arbeitsorganisation zeigt die Studie, dass kleine, sich selbstorganisierende Pflegeteams mit flachen Hierarchien, partizipativen Entscheidungsstrukturen und eigenen Handlungsspielräumen bei der Aufgabengestaltung die Arbeitszufriedenheit von Pflegekräften steigern können. Im Pflegeprozess beruhen innovative Vorgehensweisen auf ressourcenorientierten Praktiken sowie einer stärkeren Bezugspflege und zielen darauf, Pflege möglichst individuell und passgenau auf den konkreten Fall des Pflegeempfangenden abzustimmen (Case Management). Dadurch soll der Erhalt gesundheitlicher Ressourcen sowie ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben in der eigenen Häuslichkeit bewirkt werden. Und schließlich wird in der Studie deutlich, dass Quartiersansätze, die auf eine intensive Vernetzung der Pflege mit dem Wohn- und Lebensumfeld der Pflegeempfangenden, informellen Hilfen und anderen relevanten Professionen zielen, die soziale Teilhabe der Pflegebedürftigen und die Entlastung professionell und informell Pflegender fördern können.
Mehr Innovation ermöglichen
Damit soziale Innovationen in der ambulanten Langzeitpflege ihre Potenziale entfalten und sich in Deutschland stärker als bisher durchsetzen können, braucht es innovationsfreundliche Rahmenbedingungen, die die Entwicklung und Verstetigung innovativer Praktiken in der Pflege erleichtern.
Erstens bedarf es einer verstärkten Innovationsförderung, zum Beispiel in Form eines Pflege-Innovationsfonds auf Bundesebene mit niedrigschwelligem Antragsverfahren oder mittels gezielter Förderprogramme auf Landesebene. Zweitens sind Konzepte für eine nachhaltige und stabile Finanzierung innovativer Versorgungsansätze in den bestehenden Regelstrukturen notwendig, damit innovative Strukturen nach Ende einer Modellphase auch aufrechterhalten werden können. Und drittens sollte die gestaltende Rolle der Kommunen in der Pflege gestärkt werden, denn sie können bei der Verzahnung von pflegerischer Versorgung, Wohnsituation und sozialer Teilhabe eine koordinierende Schlüsselfunktion einnehmen. Als Basis hierfür hat die Bertelsmann Stiftung bereits vor einigen Jahren ein Konzept entwickelt: Das Regionale Pflegebudget.