Technische Innovationen

Eine zukunftsfähige Pflege braucht mehr Innovationen!

Nicht nur die Corona-Pandemie, auch der demografische Wandel und strukturelle Probleme setzen das Pflegesystem in Deutschland zunehmend unter Druck. Soziale und technologische Innovationen können helfen, Pflegekräfte zu entlasten und eine hohe Pflegequalität zu sichern. Zu diesem Ergebnis kommen zwei aktuelle Studien des Projekts Demografieresilienz und Teilhabe, die anhand nationaler und internationaler Praxisbeispiele konkrete Nutzenpotenziale für die Pflege aufzeigen. Martina Lizarazo López und Ulrike Spohn erklären im Gespräch, wie weit Deutschland bei innovativen Lösungen in der Pflege bereits ist und was geschehen muss, um die Potenziale in Zukunft noch besser zu heben.

Foto Martina Lizarazo López
Dr. Martina Lizarazo López
Senior Project Manager

Inhalt

Frau Lizarazo López, Frau Spohn, Sie haben sich mit Innovationen in der Pflege beschäftigt. Bei diesem Thema sind die Menschen schnell mit Kritik zur Stelle. Aber gibt es auch Hoffnung?

Ulrike Spohn: Die gibt es auf jeden Fall. Wir sehen heute schon viele gute und erfolgreiche Beispiele, die Hoffnung machen. Es gibt viele motivierte und engagierte Menschen, von Einrichtungsleiter:innen bis hin zu Pflegekräften, die es auf sich nehmen, neue Wege zu gehen, was nicht immer einfach ist. Darauf lässt sich aufbauen.

Zum Beispiel?

Spohn: Das sind einerseits soziale Innovationen, wie eine moderne Arbeitsorganisation, individuelles Fallmanagement oder Nachbarschaftshilfe. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass Pflege sehr gut durch neue Technologien unterstützt werden kann: etwa durch digitale Dokumentation, Sensoriksysteme wie zum Beispiel intelligente Windeln bis hin zu Robotik.

Martina Lizarazo López: Der Blick ins Ausland zeigt uns aber auch: Länder wie die Niederlande und Dänemark sind bei sozialen und technologischen Innovationen in der Pflege schon ein ganzes Stück weiter. Diese Länder setzen die Rahmenbe-dingungen so, dass es schon gelungen ist, gute Ideen in der Fläche umzusetzen. Von ihnen können wir lernen.

Robotik, Sensorik – das klingt nach Zukunftsmusik. Heißt das, Deutschland hinkt in vielen Bereichen hinterher?

Lizarazo López: Es fehlt uns weder an der Motivation noch an guten Ideen. Es gibt auch hierzulande zum Teil schon seit Jahren gute Ansätze und zukunftsweisende Projekte – vor allem bei den sozialen Innovationen. Auch bei den technologischen Innovationen haben wir „Leuchttürme“ gefunden. Sie zeigen, dass Technologien in der Pflege schon heute wirkungsvoll eingesetzt werden. In der Fläche steht die Pflege in Deutschland hier aber in der Tat noch eher am Anfang.

Spohn: Wo Deutschland bei sozialen wie technologischen Innovationen tatsächlich hinterherhinkt, ist die verlässliche, langfristige Finanzierung erfolgreicher Projekte. 

Soziale und technologische Innovationen bringen für die Pflegekräfte potenziell vor allem Entlastung und wieder mehr Freude an der Arbeit.

Ulrike Spohn

Was nützen die Innovationen den Pflegenden, was den Pflegebedürftigen?

Spohn: Soziale und technologische Innovationen bringen für die Pflegekräfte potenziell vor allem Entlastung – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch – und wieder mehr Freude an der Arbeit. Besonders gut funktioniert das, wo soziale und technologische Innovationen miteinander verzahnt werden. Für die Pflegebedürftigen können Innovationen ebenfalls viele Vorteile mit sich bringen, wie eine individuellere Betreuung, mehr Selbstständigkeit, aber auch eine bessere soziale Einbindung. Kurzum: mehr Lebensqualität.

Lizarazo López: Unsere Studien zeigen: Besonders erfolgreich sind Innovationen dann, wenn deren Einführung gut läuft. Pflegende und Pflegebedürftige müssen in den Prozess von Beginn an eingebunden werden und ihn aktiv mitgestalten. Wer das unterschätzt, riskiert sogar Mehrbelastungen.

Aber das Thema Kostensenkung spielt doch sicher auch eine Rolle.

Lizarazo López: Letztendlich muss es gelingen, Qualität der Pflege, Qualität der Arbeit und Wirtschaftlichkeit unter einen Hut zu bekommen. Zuallererst geht es aber um gute Pflege und darum, bessere Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte zu schaffen. Nur dann finden wir genug Menschen, die diese anspruchsvolle Tätigkeit auch in Zukunft möglichst lange ausüben wollen und auch können.

Spohn: Innovationen bedeuten zunächst einmal finanzielle Investitionen – in Technologien oder neue Personalstrukturen und in begleitende Coachings und Schulungen. Wenn die Wende hin zur innovativen Pflege gelingt, kann dies durchaus Effizienzgewinne bedeuten, vor allem Zeitersparnis. Man sollte sich aber gut überlegen, was man damit macht. Da nur an Stellenkürzungen zu denken, wäre zu kurzsichtig.

Lizarazo López: Auch wenn ein Pflegedienst natürlich die wirtschaftliche Seite im Blick haben muss, ist seine wichtigste Ressource die motivierte und gesunde Pflegekraft. Effizienzgewinne sollten deshalb vor allem zur Entlastung der Pflegenden und für eine qualitätsvolle Pflege eingesetzt werden.

„Heute sind soziale und technologische Innovationen in der Pflege ein „Nice-to-Have“, morgen sollten sie das „Must-Have“ einer zukunftsgewandten Pflege sein.“

Martina Lizarazo López

Das klingt nach vielen kleinen Stellschrauben. Resultiert daraus dann der große Fortschritt?

Lizarazo López: Ich würde eher sagen: Die Vielfalt der Ansätze ist Trumpf. Die Herausforderungen für die Pflege sind in Deutschland sehr vielfältig und regional unterschiedlich. Ein „One-Size-Fits-All-Ansatz“ passt da nicht. Es geht eher darum, auf breiter Ebene ein Bewusstsein für die Potenziale von Innovationen in der Pflege zu schaffen: Heute sind sie ein „Nice-to-Have“, morgen sollten sie das „Must-Have“ einer zukunftsgewandten Pflege sein. Klar ist: Wir müssen noch viel besser darin werden, funktionierende Ansätze auch in der Breite erfolgreich zu machen.

Kann das der Pflegebranche allein gelingen? Oder braucht sie die Hilfe der Politik? Müssen Rahmenbedingungen verändert werden?

Spohn: Die Pflegebranche allein kann das nicht bewerkstelligen, da muss auch die Politik aktiv werden. Denn unter den jetzigen Rahmenbedingungen sehen wir Innovationen in der Pflege vor allem da, wo einzelne Personen oder Einrichtungen diese mit großer finanzieller Eigenleistung befördern: weil sie finanzstark sind, Spenden sammeln oder immer wieder neue Projektmittel einwerben. Das ist aber nicht nachhaltig und keine Perspektive für einen breiten Roll-out.

Lizarazo López: Die Politik ist sowohl am Anfang als auch am Ende des Innovationsprozesses gefragt. Um den Motor erst einmal ans Laufen zu bringen, brauchen wir zu Beginn eine niedrigschwellige Innovationsförderung, die die sehr unterschiedlichen Startbedingungen und Entwicklungsstände von Pflegeeinrichtungen berücksichtigt. Um erfolgreiche Ansätze dann aber auch zu verstetigen, ist es notwendig dafür zu sorgen, dass sie innerhalb der Regelstrukturen dauerhaft refinanziert werden.

Die Pflegekräfte bekommen in der Zeit der Pandemie viel Aufmerksamkeit. Kann man diesen Schub nutzen?

Spohn: Die Pandemie hat vielen Menschen wohl deutlicher als zuvor noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig der Beruf der Pflegekräfte ist. Doch das gilt nicht nur für Pandemie-Zeiten: In unserer alternden Gesellschaft werden wir auch nach Corona dringend auf Pflegekräfte angewiesen sein. Die aktuelle Aufmerksamkeit sollten wir nutzen, um das ganz klar zu machen. Die nun viel beschworene Wertschätzung für diesen Beruf sollte unbedingt auch nach Corona im Bewusstsein bleiben.

Lizarazo López: Der demografische Wandel rollt unweigerlich auf uns zu. Wir alle wollen in Würde alt werden und bei Pflegebedürftigkeit gut versorgt sein. Ohne den tagtäglichen Einsatz motivierter und gesunder Pflegekräfte ist das nicht möglich.

Alle Infos und Downloads zu den beiden Studien finden Sie hier: