Zwei Personen reichen sich vor der Europaflagge die Hände.

Die vereinigten Bürger von Europa

Entscheiden wir Bürger am Sonntag bei der Europawahl zwischen mehr oder weniger Europa, zwischen einem europäischen Bundesstaat oder einem Staatenbund? Henning vom Stein, Senior Project Manager der Bertelsmann Stiftung, gibt eine Prognose ab.

Das Bild des "Scheideweges" wird in der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union oft bemüht. Sind wir an einem Scheideweg angekommen und müssen uns in den anstehenden Wahlen zwischen Alternativen entscheiden? Zwischen mehr oder weniger Europa? Ist das der tiefere Sinn dieser Europawahl?

Wichtig ist, dass der Wähler in diesem achten europäischen Wahlgang seit 1979 erstmals die Möglichkeit hat, die Kandidatin oder den Kandidaten für den Chefsessel in der Europäischen Kommission mitzubestimmen. Fünf der acht Fraktionen im Europäischen Parlament sind mit Direktkandidaten für dieses entscheidende Amt im Gefüge der europäischen Institutionen im Wahlkampf angetreten. Welche Konsequenzen könnte es haben, sollte der Spitzenposten erstmals aus den 751 Sitzen des Europäischen Parlaments besetzt werden?

Damit wird sich nicht automatisch ergeben, dass sich die Europäische Union zu einem Bundesstaat entwickelt. Eine Entwicklung zu einer Art "Bundesregierung" auf europäischer Ebene wird sich daraus nicht automatisch abzeichnen. Ebenso wenig stellt die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, die Besetzung der Kommissionsspitze zwar "im Lichte des Wahlergebnisses", aber letztlich doch nach ihrem Gusto vorzunehmen (was sie laut dem Vertrag von Lissabon können), eine Weichenstellung in Richtung Staatenbund dar.

Bundesstaat versus Staatenbund? Gemeinschaftsmethode versus Zusammenarbeit nationaler Regierungen? So klar stellt sich dem Wähler die Abwägung im Falle der Europäischen Union heute nicht dar.

Historische Ausgangslage für die Entstehung der EU war der unabwendbare Konflikt von ständig in wechselnden Bündnissen und Achsen organisierten Nationen, die so ihre Sicherheit stärkten, notfalls aber auch Kriege vorbereiteten. Die Logik einer Gemeinschaft der europäischen Völker nach dem Zweiten Weltkrieg lag in der gemeinsamen Verwaltung bestimmter Bereiche (Kohle und Stahl, Binnenmarkt). Ein System, das sich – möglicherweise anfangs zusammengehalten durch die Zwänge des Kalten Krieges und seiner bipolaren Ordnung – bis heute als ein belastbares erwiesen hat. Das hat sich in der letzten Krise deutlich gezeigt.

Die Gesellschaft präsentiert sich heute mit ihrer politischen und kulturellen Vielfalt in neuer Gestalt. Deshalb stellt sich auch die Frage nach der Systemlogik der EU neu. Es muss die Frage gestellt werden, ob die von Nationen gewählten Parlamente und die von ihnen getragenen Regierungen noch den Zustand der tatsächlichen europäischen Gesellschaft reflektieren und die Entscheidungen treffen können, die einen Zusammenhalt einer solchen Gesellschaft garantieren.

Die Europäische Union wird bis auf Weiteres eine Kombination aus Bundesstaat und Staatenbund bleiben. Eine vierte Ebene der politischen Entscheidungsfindung, neben der kommunalen, regionalen und nationalen, hat sich in sieben Jahrzehnten etabliert und bewährt.

Die EU? Das sind ihre Staaten, die vereinigt sind und geeint handeln, um das gemeinsame Wertesystem ihrer Bürger zu gestalten. Genau darum ist diese Wahl so wichtig!

Henning vom Stein ist Senior Project Manager im Programm "Europas Zukunft" der Bertelsmann Stiftung. Sein Artikel gehört zu einer Serie von Analysen, Hintergrundtexten und Kommentaren, mit denen die Bertelsmann Stiftung auf die Europawahl am kommenden Sonntag einstimmt. Die weiteren Teile der Serie finden Sie in der Link-Box auf der rechten Seite.