Das Luschniki-Stadion in Moskau, der Finalspielort der Fußball-WM 2018, bei Nacht. Das Stadiondach ist in den Farben der russischen Flagge angeleuchtet.

Spielerisch Nationalismus pflegen – Die Fußball-WM in Russland als Politikum

Der Sport und seine Großereignisse sind ein beliebtes Instrument der russischen Regierung geworden. Sportpolitik ist ein wesentlicher Teil  jener Staatsführung, die den Anschluss an die sowjetische Vergangenheit sucht. Ein Kommentar von Miriam Kosmehl und Richard Arnold.

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Seit Putins zweiter Amtszeit als Präsident 2004-2008 hat sich die Russische Föderation erfolgreich beworben, internationale Sportgroßereignisse auszurichten, von Fußballspielen der europäischen Champions League bis zur Sommer-Universiade, der weltweit zweitgrößten Multisportveranstaltung nach den Olympischen Spielen, bis zu den Olympischen Spielen selbst und der nun anstehenden Fußballweltmeisterschaft.

Viele Beobachter begrüßten Sport-Mega-Events (SMEs) in Russland als willkommenes Zeichen für seine Integration in die neue multipolare Weltordnung. Doch anschließende, die europäische Friedensordnung verletzende Handlungen wie etwa die Krim-Annexion lassen an dieser Lesart zweifeln. Aber die Handlungsmotive widersprechen sich nur auf den ersten Blick und sind leicht in Einklang zu bringen. Gerade internationale Sport-Events eignen sich, um die eigene Nation zu glorifizieren. Im Fall Russlands und in den Augen vieler Russen stehen die Begeisterung für das Ausrichten internationaler Sportereignisse und eine an den Kalten Krieg erinnernde Sowjet-Rivalität gleichermaßen dafür, dass Russland wieder im Aufstieg begriffen ist.

Status-Symbol Fußball-WM

Der Fußball ist besonders geeignet, das kollektive Selbstbewusstsein zu steigern und den Status des eigenen Landes in der Welt zu demonstrieren. Auch wenn Russland selbst nicht zu den WM-Favoriten zählt, so ist eine andere Botschaft entscheidend: Nur Premier-League-Länder – um eine Fußball-Metapher zu bemühen – erhalten die Chance, ein SME durchführen zu dürfen. Also ist es auch eine Anerkennung und Wertschätzung, Gastgeberland zu sein.

Erhebungen des anerkannten russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum halten fest, dass im Oktober 2014 33 Prozent aller Umfrageteilnehmer "sportliche Leistungen" als Grund für "Stolz auf Russland" nennen – an dritter Stelle nach "Naturreichtümern" und "russischer Geschichte". Dieser Anteil ist zwar im Oktober 2017 auf 24 Prozent zurückgegangen, aber zu Gunsten des Stolzes auf die russischen Streitkräfte, die nun nach der Natur und der Geschichte den dritten Platz einnehmen (37 Prozent gegenüber 24 Prozent im Jahr 2014). Nach einer Untersuchung der Russischen Soziologischen Organisation sind russische Studenten sehr stolz darauf, dass ihr Land die Fußball-WM ausrichten wird.

Als die Sowjetunion zerfiel, beklagten viele Russen vor allem den Verlust von Großmachtstatus (derzhava). Wenn populäre Sportereignisse nach George Orwell "Krieg ohne schießen" sind, dann ist es ein mächtiges symbolisches Bild, wenn das eigene Land sich als "Sportgroßmacht" beweist. SMEs sind also eine Status-Quelle, die den Durst nach Anerkennung für das eigene Land stillen.

Starker Präsident, starke Nation

Neben dem Narrativ des sich von den Knien wieder erhebenden Russlands bringt es eine Reihe alltäglicher Vorteile mit, Sportgroßereignisse durchzuführen. SMEs bieten die Möglichkeit, Werbung als Reiseland zu machen und negative Stereotype zu widerlegen. Deutschland hat die Fußballweltmeisterschaft 2006 gut genutzt. Viele Bürger und Besucher haben eine neue Beziehung zu den schwarz-rot-goldenen Farben der deutschen Fahne im Sinne eines aufgeklärten Patriotismus entwickelt ("Deutsches Sommermärchen").

In Russland bündeln sportliche Großereignisse zudem ganz unterschiedlich verstreute Unterstützer der Nation, die gemeinschaftlich "die Macht und die Gewalt unseres Landes, unser Verlangen zu gewinnen" demonstrieren, so Putin über die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi. Zunächst dürften externe "soft power"-Vorteile das Ziel der russischen Regierung gewesen sein, die Olympischen Winterspiele auszurichten: Präsident Putin und Außenminister Lawrow diskutierten öffentlich darüber, Sotschi zum internationalen Reiseziel für gutsituierte Russen und Besucher aus Europa zu machen. Auch wenn Russlands aggressive Außenpolitik diese Pläne unterminiert hat, bleiben die internen "soft power"-Vorteile – und es ist anzunehmen, dass das aktuelle Fußballfestival denselben Effekt haben wird.

Drittens können SMEs auf das selbststilisierte Image einer Nation wirken, wenn Bilder aus dem Sport von Gesundheit und Stärke auf die Regierenden projiziert werden. Präsident Putin wird als Tatmensch und Macher portraitiert. Seine Sportarten Judo, Reiten, Schwimmen und Eishockey lassen ihn attraktiv erscheinen. Die Selbstinszenierungen rufen Erinnerungen an Mussolini wach, der sich ebenfalls oberkörperfrei fotografieren ließ und es ausgezeichnet verstand, die Wirkung des Sports für seine politischen Zwecke zu nutzen. 1934, in der Nacht vor dem WM-Finale Italiens gegen die Tschechoslowakei, übernahm Mussolini in Rom persönlich die aufmunternden Worte an die Mannschaft. Das fiel positiv auf ihn zurück, als Italien gewann. Ganz ähnlich steigert Putins sportliches Image den um ihn betriebenen Persönlichkeitskult als starken Präsidenten.

Investieren für einen Zweck

Mit den abschließenden Vorbereitungen zur WM fragen einige allerdings kritisch nach dem Kosten-/Nutzenverhältnis. Angesichts von Russlands gegenwärtiger Entfremdung von der globalen Gemeinschaft und der Sanktionen, der Beschuldigungen, sich in Wahlen anderer Staaten eingemischt zu haben, und der Affäre um die Vergiftung des ehemaligen Angehörigen der russischen Sicherheitskräfte Sergei Skripal erscheint die Absicht, eine Fußball-WM nutzen zu können, um in der Weltgemeinschaft mehr Anerkennung zu finden, entweder unrealistisch oder verschwendetes Geld.

Aber es gibt eben wirkungsvollere Vorteile, die das Abhalten der WM für Russland mit sich bringt: "Zu Hause" mit nationalistischen Tönen die Beliebtheit zu sichern – in ökonomisch schwierigen Zeiten, in denen nicht alle Russen enthusiastisch über die vierte Amtszeit ihres Präsidenten sind, sondern weitere sechs Jahre Stagnation fürchten.

Miriam Kosmehl ist die Osteuropaexpertin unserer Stiftung. Dr. Richard Arnold ist Associate Professor for Political Science an der Muskingum University in New Concord im US-Bundesstaat Ohio. Er unterrichtet vergleichende Politikwissenschaft und internationale Beziehungen, einschließlich der russischen Politik.