Putin vor der Wiederwahl – mehr von der Droge Nationalismus
In Russland sorgt am kommenden Sonntag nicht Wladimir Putins Wiederwahl für Spannung, sondern die Wahlbeteiligung. Denn der einzige ernsthafte Herausforderer Alexei Nawalny, selbst nicht als Kandidat zugelassen, ruft zum Wahlboykott auf. Putin mobilisiert, indem er Russlands militärische Schlagkraft demonstriert. Ein Kommentar unserer Osteuropa-Expertin Miriam Kosmehl.
"Unser Land. Unser Präsident. Unsere Wahl." Das ist nicht der selbstbewusste Slogan des Kandidaten Putin. So informiert auf großen Werbetafeln die Zentrale Wahlkommission. Denn der alte und neue Präsident, der seit seinem Amtsantritt zur Jahrtausendwende alle Staatsstrukturen unter seine Kontrolle brachte, muss sich nicht um seine Wahl sorgen, wohl aber um eine akzeptabel hohe Wahlbeteiligung. Dafür wird findig mobilisiert, etwa indem Schüler per Brief Wähler zur Wahl "einladen".
Es fehlen echte Gegenkandidaten. Der eine, der sich traute, Korruption auf höchster Ebene und Kriegsverherrlichung zu kritisieren, Boris Nemzow, wurde 2015 erschossen. Der andere, der Rechtsanwalt Alexei Nawalny, ist von der Wahl wegen einer umstrittenen Verurteilung ausgeschlossen, obwohl er das Urteil erfolgreich vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof angefochten hat.
Wahlboykott als Protest
Nun ruft Nawalny zum Boykott auf. Das ist ernst zu nehmen, denn im Unterschied zu den gescheiterten Reformern Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais oder Grigori Jawlinski gelingt ihm die Kommunikation mit mehr Bürgern. Das ist neu in der elitären russischen Gesellschaft, die nur dem Mythos nach auf Gleichheit beruht. Wo Ärzte und Lehrer nach wie vor nur 350 Euro verdienen, verbreitet Nawalny Wissen über den märchenhaften Reichtum der heute Russland Regierenden digital. Selbst den Graben zwischen Moskau und St. Petersburg und der Provinz überbrückt er und mobilisiert auch erfolgreich in den Regionen.
Dabei sind gerade engagierte Bürger unter Druck. Mitarbeiter angesehener Organisationen werden diffamiert, etwa die von "Memorial", gegründet vom Nobelpreisträger Andrei Sacharow für Repressionsopfer. Renommierte Wissenschaftler müssen (wieder) das Lager fürchten und haben Glück, wenn westliche Kollegen mit einschlägigen Beziehungen sie noch außer Landes bringen.
Die in der Transformation der Neunzigerjahre begonnenen Ansätze, die Selbstisolation Russlands zu beenden, fuhr der Geheimdienstler Putin zurück. Dabei verlagerte er Einfluss und Eigentum stetig auf Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Wirtschaftsreformen und Innovation blieben auf der Strecke. So sind immer weniger Russen wirtschaftlich gut gestellt und ohne Möglichkeit zum Aufstieg. Viele leiden unter großen sozialen Problemen, etwa stellt der Staat keine menschenwürdige Gesundheitsversorgung sicher.
Absicherung durch Abgrenzung
Ein rückwärtsgewandter Nationalismus dient der innenpolitischen Absicherung des eigenen Regimes, das in einer globalen Weltordnung Proteste der eigenen Bürger mehr fürchtet als ausländisches Militär. Unzufriedenheit begegnet der Kreml mit immer größeren Dosen von Nationalismus und Abschottung – bewährte Instrumente in Krisenzeiten. Auch in Putins Rede zur Lage der Nation, die er strategisch geschickt nicht wie üblich zum Jahresende hielt, sondern kurz vor der Wahl, nimmt Militarismus den meisten Raum ein. Waffen zu verherrlichen ist in Russland populär, vor allem, seit Putin traditionelle Feindbilder neu belebt hat: die "Umzingelung von außen" – hier ist "der Westen" gemeint – und Verrat von innen durch die "Fünfte Kolonne" – nicht genehme Bürgergruppen.
Der Herrschaftssicherung dienen auch die Militärinterventionen in Syrien und der Ukraine sowie die Angriffe gegen das Modell des demokratischen Rechtsstaats, den die mächtigen russischen Staatsmedien als an islamischer Überfremdung und Sittenverfall scheiternd darstellen (Stichwort "Gayropa"). Ebenso gehört dazu, fremde Wahlen und Abstimmungen zu manipulieren, mit Parteien wie der AfD und dem Front National zu kooperieren und großflächig in Fake-News-Kampagnen und Cyber-Angriffe zu investieren.
Lew Gudkow, der angesehene Leiter des Lewada-Zentrums für empirische Sozialforschung, analysierte schon 2010: "Vielleicht hat das Regime inzwischen ein Stadium erreicht, in dem der Machtinstinkt die Führung zwingt, den einmal eingeschlagenen Weg immer weiterzugehen, obwohl sie möglicherweise ahnt, wie falsch oder sogar gefährlich er ist. Die gewaltigen Dimensionen des Machtmissbrauchs und der Rechtsverstöße lassen der Führung gar keine Möglichkeit zum Rückzug oder Machtverzicht, wäre sie doch, wenn sie ihre Macht verlöre, vor Strafverfolgung nicht mehr sicher."
Die EU sollte im erfreulicherweise nie abgebrochenen Dialog mit Russland dennoch den Weg aus der Sackgasse suchen – allerdings mit einer Vielfalt russischer Partner, und ohne Machtmissbrauch und Rechtsverstöße kleinzureden. Nur aus einer eigenen klaren Position der Stärke ist Einfluss möglich. Der Umgang mit Russland wird nach der Wiederwahl Wladimir Putins keineswegs leichter.