Jahrelang hatte Moskau seine militärische Präsenz in der Ukraine geleugnet und behauptet, dort kämpften ukrainische Separatisten nur aus eigenem Antrieb – obwohl die Steuerung der angeblichen Separatisten, etwa durch den langjährigen Vize-Chef der Kreml-Verwaltung Wladislaw Surkow, gut dokumentiert war. Die Großinvasion aus drei Richtungen hat Russlands Rolle als Aggressor ins Scheinwerferlicht gerückt, ebenso wie den militärischen Beistand Irans und Nordkoreas und den chinesischen Rückhalt für Russland. Noch stützt der Zusammenhalt der EU, der Ukraine in diesem Krieg beizustehen, die internationale Ordnung. Ob die europäische Entschlossenheit Bestand hat und rechtzeitig in weitere Taten mündet, bestimmt mit über Sicherheit, Frieden, Fortschritt und Wohlstand – über Europas Grenzen hinaus.
Europäische Selbstbehauptung in einem neuen Systemkonflikt
Der Ukraine zum Sieg zu verhelfen ist die Blaupause europäischer Selbstbehauptung gegenüber Putins revisionistischem Imperialismus. Russland ist strategischer Gegner auch der EU, des demokratischen Europa. Vorbei ist die Zeit von Vladimir Putins Doppelrolle als vermeintlichem Friedensvermittler und gleichzeitigem Störer des internationalen Systems, Fakten und Wahrheiten negierend. Während die Ukraine um ihre Existenz kämpft, ist in der EU zur Gewissheit geworden, dass Europa ein Kontinent nur geteilter Sicherheit ist, mit einerseits durch ihre NATO-Mitgliedschaft geschützten Ländern und denen ohne Schutz andererseits.
Schafft der politische Westen die fundamentale realpolitische Wende?
Um den Kreml langfristig militärisch zu stoppen und neue Angriffe abzuschrecken, schließen die G7 und weitere Staaten aktuell bilaterale Sicherheitsabkommen mit der Ukraine. Die begründen allerdings keine Beistandspflichten, die vergleichbar wären mit der Sicherheitsgarantie gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages, und werden in Kyjiw auch kritisch gesehen, angesichts der Erfahrung mit dem Budapester Memorandum von 1994. Darin hatten (neben Russland) Großbritannien und die USA der Ukraine zugesichert, ihre Unabhängigkeit und die existierenden Grenzen zu respektieren.
Beständig sprechen sich EU-Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich für eine gemeinsame EU-Verteidigungspolitik aus, zuletzt eine überwältigende Mehrheit von 87 Prozent in der eupinions-Umfrage der Bertelsmann Stiftung. Die Union muss ihre militärischen Fähigkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dringend ausbauen und ihre Zusammenarbeit mit der NATO – als zuverlässiger „europäischer Pfeiler“ – vertiefen.
Vladimir Putin geht es um nicht weniger, als die Existenz der Ukraine zu zerstören und die westliche Sicherheitsarchitektur außer Kraft zu setzen.
Herausforderungen für die Ukraine: Überleben, Wieder- bzw. Neuaufbau und EU-Beitritt
Trotz unbestreitbarer Defizite etwa bei der Bekämpfung der Korruption: Die Ukraine verteidigt jene Werte, auf die sich die EU gründet. Es ist nur folgerichtig, dass die Union nicht länger zwischen Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik trennt, sich aus geopolitischen Gründen vergrößern will und der Ukraine (neben anderen Ländern) die Mitgliedschaftsperspektive eröffnet. Damit der Politikwechsel auch umgesetzt werden kann, muss die EU ihre eigenen Strukturen und Verfahren reformieren, zunächst ihre Handlungsfähigkeit, etwa indem grundsätzlich per qualifizierter Mehrheit entschieden und das Vetorecht abgeschafft wird.
Resilienz, Stabilität und Problemlösungsfähigkeiten der Ukraine sind angesichts anhaltender Zerstörungen und Millionen Geflüchteter bemerkenswert. Die gegenwärtige Lage an den Frontabschnitten offenbart jedoch einen verlustreichen Abnutzungskrieg – mit Russland im Vorteil, wegen größerer Ressourcen und einer Kriegsführung, die die Verluste von Menschenleben nicht scheut. Ob die Ukraine als Staat überlebt, hängt entscheidend davon ab, dass ihre Verbündeten sie noch rechtzeitig umfassender unterstützen: Das setzt voraus, die eigenen militärischen Produktionskapazitäten zu steigern, fragmentierte Märkte zu überwinden und weitere Waffenlieferungen zu beschließen, die der Ukraine in ihrer Verteidigung nutzen.
Die existentiellen Herausforderungen durch den Krieg erfordern außergewöhnliche Antworten. Keinesfalls sollten sich die Partner der Ukraine auf Nothilfe beschränken, sondern auch den Wiederaufbau strategisch unterstützen, damit gelingt, was die Menschen in der Ukraine wie im freien Europa mehrheitlich als ihren Willen kundtun: dass die Ukraine als liberale Demokratie bestehen und, dem Prinzip „build back better“ folgend, perspektivisch mit der EU aufschließen kann. In der aktuellen eupinions-Umfrage sprechen sich EU-weit 60 Prozent für die künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine aus.
Auf Synergien setzen auch die frühen EU-Initiativen, die in die „Ukraine Facility“ münden, das im Januar 2024 endlich verabschiedete Finanzpaket für die restlichen vier Jahre des aktuellen EU-Finanzrahmens. Die dort vorgesehenen 50 Milliarden Euro verflechten Wiederaufbau und Modernisierung mit dem EU-Beitrittsprozess. Sie können aber nur der Anfang dessen sein, was aufgewendet werden muss, um das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Überleben der Ukraine zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist abzuwägen, ob russisches Zentralbankvermögen herangezogen werden kann.
Eine belastbare Zukunftsperspektive ist entscheidend
Rückkehr, Neuaufbau und EU-Beitritt bilden einen Dreiklang, der sich nur entfalten kann, wenn neben Sicherheit auch die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Perspektiven Ukrainerinnen und Ukrainer überzeugen, in ihrem Land zu bleiben oder zurückzukehren. Die EU-Perspektive kann als Licht am Ende des Tunnels nur Bestand haben, wenn ein Rahmen erkennbar ist, der Stabilität in Aussicht stellt, so dass die öffentlichen Mittel schließlich private Investitionen mobilisieren.
Ob, wann und in welchem Zustand die Ukraine der EU tatsächlich beitritt, hängt wesentlich vom Ausgang des Krieges ab. Dass zunehmend die Menschen fehlen, weil viele gestorben, kriegsversehrt oder geflüchtet sind, ist Thema jeder Kapazitätsplanung und ausweislich wissenschaftlicher Modelle alarmierend.
Verhandeln mit einer Diktatur, die den Krieg ideologisiert?
Die Tötung des russischen Oppositionellen Alexei Navalny zeigt, dass Russland zugleich schwach und stark ist in dem Krieg, dessen oberster Kriegsherr Putin sein eigenes Schicksal damit verknüpft hat, sich die Ukraine untertan zu machen. Er inszeniert Russland inzwischen außerdem als Vorkämpfer gegen US-amerikanische Dominanz und sucht den Schulterschluss mit Ländern des sogenannten Globalen Südens, von denen bis heute nur wenige die koloniale Rolle Russlands in Osteuropa und Zentralasien wahrnehmen, geschweige denn kritisieren. Angesichts der globalen Auswirkungen des Krieges wächst die Verantwortung der Verbündeten der Ukraine; Allianzen sind zunehmend wichtig, um im Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staaten langfristig belastbare Antworten geben zu können.
Bislang unterstützen die Partner der Ukraine sie unzureichend. Die Ukraine in eine überlegene Position zu bringen ist aber die Voraussetzung dafür, dass Russland von seinem Ziel Abstand nimmt, ihre unabhängige Existenz zu zerstören. Nur so ist ein Ende des Krieges denkbar.
Ziele zu definieren ist Sache der Ukraine, garantierte Sicherheit bleibt der Schlüssel
Nach zwei Jahren Krieg, enormen Opfern und akutem Mangel an Waffen- und Munition ist es zumindest in der freien Ukraine kein Tabu mehr, sich zu fragen, ob die vollständige territoriale Integrität gegenwärtig zu erreichen ist. Nicht diskutiert werden Souveränität und Bündniswahl, weil dies bedeuten würde, ein Leben unter dem Diktat Vladimir Putins zu akzeptieren. Dieser ist für einen langen Krieg bereit, sagt seit zwei Jahren offen, dass es ihm um das „historische Russland“ gehe und Europa von 1997, d.h. ohne NATO-Einheiten in Polen, den baltischen Staaten, Rumänien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Albanien, den Ländern des früheren Jugoslawiens.
Wenn die Ukraine nicht immer mehr in die Defensive geraten soll, ist ihre effektive Verteidigung und Abschreckung Russlands ohne realistische Alternative. Jetzt, wo die Lage noch nicht verloren ist, aber psychische und körperliche Leistungskraft in Folge ungleicher Kräfteverhältnisse an Grenzen kommen, ist spätestens der Moment, dass sich Europa eindeutig positioniert und handelt – und nicht zuletzt mit Blick auf Entwicklungen in den USA Verantwortung auch für die eigene Sicherheit übernimmt. Europa hat dafür die Mittel, die Ukrainer haben (noch) die Willenskraft.