Autorinnen: Inge Michels und Angela Müncher
Ziel erreicht: Stärken stärken, Teamstrukturen ausbauen, Profil schärfen
"Wenn das Land NRW sich auf den Weg macht und sagt: ‚Wir möchten die Unterrichtsentwicklung in Schulen mithilfe einer Stiftung unterstützen‘, dann ist das ja eine gute Möglichkeit, auf den Zug aufzuspringen und zu sagen:,Da wird uns eine ungeheuer kompetente Fortbildung über einen langen Zeitraum mit nachhaltiger Perspektive geboten; da machen wir mit.‘ Und genau mit dieser Argumentation bin ich dann an mein Kollegium herangetreten." Schulleiterin Claudia Brozio von der Ruth-Cohn-Schule für Kinder mit emotionalem und sozialem Förderbedarf in Arnsberg (Hochsauerlandkreis) fiel es nicht schwer, ihre Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, bei Vielfalt fördern mitzumachen. Sie sieht die Chancen des Programms gerade darin, das zu stärken, was bereits gut klappt, dieses auszubauen und dabei auch noch Neues zu entwickeln. Auf diesen Ansatz ließen sich die Lehrkräfte gerne ein. Damit hat Claudia Brozio genau jene Argumente ins Feld geführt, von denen das Programm Vielfalt fördern profitiert. Seine Vorteile für Unterricht und Schulentwicklung kann es gerade an jenen Schulen voll entfalten, wo es auf einen fruchtbaren Boden trifft. Bei der Ruth-Cohn-Schule ist dies die Teamarbeit. Sie gehört zu den großen Stärken des Kollegiums, welches sich außerdem durch eine besondere Kultur der Chancenorientierung auszeichnet – beste Voraussetzung, dass sich motivierte Lehrerinnen und Lehrer auf die Fortbildung und deren Anforderungen an Kooperation und Vernetzung einlassen konnten. Den grundsätzlichen Wert der Fortbildung sah das Kollegium folglich darin, den Teamansatz weiter auszubauen. Anders formuliert: "Ich denke, es tut unserer Gemeinschaft und damit dem Unterrichten, unserem Kerngeschäft, sehr gut, Zeit und Anleitung zu bekommen, etwas gemeinsam weiterzuentwickeln", so Sarah Engel aus der Steuerungsgruppe von Vielfalt fördern.
Unterrichtsentwicklung als Aufgabe von Teams
Zwei Jahre nach Start des Programms resümiert die Schulleiterin: "Die Form, die unsere Teamarbeit mittlerweile angenommen hat, ist mit dem, was wir ursprünglich gemacht haben, nicht mehr zu vergleichen. Angestoßen durch die Diskussionen im Programm Vielfalt fördern haben wir uns entschieden, unsere Strukturen in der Schule noch mal ganz deutlich abzuändern und auch die Schulentwicklung in die Hände von Teams zu legen."
Inzwischen hat die Schule ihre gesamte Struktur umgestellt: Es gibt nicht mehr mehrere einzelne Klassen 5 oder Klassen 6, sondern eine Unterstufe, in der die Lehrkräfte immer im Team, dem Unterstufenteam, unterrichten. Genauso verhält es sich in den Stufen 7 und 8 (Mittelstufe) sowie 9 und 10 (Oberstufe).
Das so organisierte und systematisierte gemeinsame Unterrichten führt fast automatisch dazu, dass man sich Rückmeldung gibt und so seinen Unterricht und sich als Lehrerin bzw. Lehrer weiterentwickelt. Sarah Engel: "Wir arbeiten jetzt konsequent zu zweit und dann ist es einfach viel leichter und auch schneller, mal eine Rückmeldung zu geben oder sich auch Rat zu holen. Wenn man zum Beispiel über einen Schüler spricht und sagt: ‚Was kann ich machen?‘ Auch so: ‚Hm, da hast du vielleicht ein bisschen überreagiert.‘ Und das geht schon sehr gut."
Die Teams tauschen sich also vor allem dezidiert und strukturiert über ihren Unterricht aus. Das Unterstufenteam, das Mittelstufenteam und das Oberstufenteam haben sich ein eigenes Profil gegeben und Schwerpunkte ihres Unterrichts gemeinsam entwickelt. Die Schulleiterin erläutert: "Ich bin ja viel weniger dicht am Bedarf der Schüler dran als meine Teams. Warum soll ich dann sagen, ich mache eine Stundenplanung, die möglicherweise am Bedarf vorbeigeht? Die Teams haben natürlich eine Stundentafel, die erfüllt werden muss. Aber innerhalb dieser sehr offenen Rahmenbedingung kann ein Team zum Beispiel zu mir kommen und sagen: ‚Das und das halten wir im Unterricht gerade für notwendig, das soll unsere Schwerpunktsetzung sein.‘ Oder auch: ‚In der Lerngruppe brauchen wir jetzt eine intensivere Personenressource.‘ oder ‚Mit diesen Schülern in der Konstellation brauchen wir anderes Material.‘
Es sind die Teams, die mit großer Unterstützung der Schulleiterin für jedes Kind – bis zum hochbegabten – ein individuelles Unterrichtsangebot überlegen. So entschieden sich die Teams der Unter- und Mittelstufe zum Beispiel, ihre Hunde mit zur Schule zu bringen und eine tiergestützte Pädagogik aufzubauen, die den Unterricht flankiert. Ein anderes Team baute ein intensives Angebot in Englisch auf. Die Teams arbeiten in eigenen, festen Strukturen und treffen sich regelmäßig. Sie überlegen zum Beispiel: Kann diese Lerngruppe ein bestimmtes Niveau erreichen? Oder kann sie vielleicht noch weiter gehen? Welche Schüler können nicht klassenspezifisch unterrichtet werden und wer passt in puncto Leistungsfähigkeit mit wem zusammen? Wo können wir kooperatives Lernen stützen? Welcher Schüler kann dabei soziale Kompetenzen einbringen und selber daran wachsen, andere zu unterstützen?
Standards für Fächer und Unterricht werden schulweit entwickelt
An der Förderschule für emotionalen und sozialen Förderbedarf sind es die Lehrerinnen und Lehrer gewohnt zu diagnostizieren. Als es in Vielfalt fördern dann zum zweiten Modul kam, schien es deshalb erst einmal ungewöhnlich, einen ganzen Baustein zur Diagnostik zu bekommen. Den Lehrerinnen und Lehrern war aber schnell klar, in welchem Bereich sie die Weiterentwicklung angehen wollten: in den Fächern. Denn jede Lehrkraft hat zwar ein bestimmtes Fach, sie muss aber häufig zusätzlich auch fachfremd unterrichten. Und dazu gehört natürlich auch der genaue Blick auf fachliche Entwicklungsprozesse.
Marion Zähring: "An Diagnostikmaterial, auch für Fächer wie Deutsch und Mathe, hat es schon vor der Fortbildung nicht gemangelt. Nur kannten wir sie nicht wirklich gut, weil sie zum Teil in dem riesengroßen Regal einfach untergingen. Deshalb haben wir festgelegt, dass jeder sich einen Test mit nach Hause nimmt, den er den anderen vorstellt. Das hat ganz viel Austausch im Kollegium bewirkt. Und zusätzlich haben wir uns darüber ausgetauscht, wie wir vorgehen, wenn wir zum Beispiel eine Mathearbeit vorbereiten."
Genau diesen Austausch über Unterricht und bestimmte Vorgehensweisen haben die Teams auch im weiteren Verlauf der Fortbildung fortgesetzt. Das Mittelstufenteam hat seine Mitteilungshefte in Richtung Logbuch umgestaltet und hat sie damit für Schülerinnen und Schüler sowie für deren Eltern einfacher zugänglich gemacht. Dort kann man jetzt auf einen Blick sehen, wie der Tag gelaufen ist, ob die Schülerinnen und Schüler Hausaufgaben haben, wie ihr Verhalten und ihre Mitarbeit waren.
Eine schulweite Entwicklung hat es zu Wochenplänen gegeben. Sarah Engel: "Wir haben alle gleichermaßen einen Wochenplan gemacht. Der sieht bei allen Stufen gleich aus – und das verbindet. Ich finde das auch persönlich sehr hilfreich, weil man sich darüber im Grunde definiert und man was Gleiches macht. Und wenn man jetzt als Schüler in eine andere Klasse geht, weil man aufgeteilt ist, weil man als Schüler nicht in der Klasse arbeiten kann oder was auch immer ist, dann weiß der Kollege schon: Ach ja, Wochenplan sieht soundso aus. Und damit kann man arbeiten – und den Schülern hilft es auch."
"Es läuft nicht mehr alles über meinen Tisch"
Das Fortbildungsprogramm Vielfalt fördern hat die Ruth-Cohn-Schule in ihrer Teamorientierung bestärkt und diese nochmals intensiviert. Die Lehrerinnen und Lehrer schätzen die Fortbildung, weil sie den eigenen Blick auf ihre Arbeit noch einmal schärfen können. Sie nehmen das, was gut läuft, das Positive, in den Blick und fragen sich: Was wollen wir genau so weitermachen, was abändern, ergänzen oder vielleicht auch fallen lassen oder weiterentwickeln? Eine Reihe von Anregungen aus Vielfalt fördern wurden begeistert aufgegriffen. Dazu gehören die Stärkekarten, mit denen ein Moderator gute Erfahrungen gemacht hatte. Sie wurden für alle Teams angeschafft und ergänzen inzwischen den Materialpool der Schule. Auch so werden Prozesse lebendig gehalten.
Ein nicht unbedingt so erwarteter Effekt der Fortbildung betrifft die Entlastung der Schulleitung. Die Vorteile für die Leitungsfunktion sieht Claudia Brozio so: "Die Selbstverantwortung ist noch einmal gewachsen. Es läuft nicht mehr alles über meinen Tisch. Ich erlebe, dass Schwierigkeiten oder Abwägungsprozesse im Team geführt und geklärt werden. So kann ich später in Themen einsteigen und noch einmal fragen, ob alles bedacht wurde, die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Beispiel. Das macht das Arbeiten für alle entspannter, denn jeder Einzelne weiß: Wenn ich Probleme oder Wünsche habe, ist das Team da, das sich verantwortungsvoll verhält."
Vielfalt fördern wirkt nach innen und außen
Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass die Teamverantwortung der Schule zu ihrem herausragenden Profil gehört. Beim Wettbewerb "Demokratisch handeln" wurden die Schülerinnen und Schüler zum wiederholten Mal ausgezeichnet. Die Schule erhielt einen Schulentwicklungspreis und den Sozialpreis "sozialgenial". Claudia Brozio wurde von der Deutschen Schulakademie in Berlin eingeladen, daran mitzuwirken, wie sich Schule in Deutschland innovativ weiterentwickeln kann. Gerade Schulentwicklung, der sich die Ruth-Cohn-Schule auf Anregung von Vielfalt fördern besonders annimmt, ist ein Thema, für das die Deutsche Schulakademie im Verbund mit der Robert Bosch Stiftung, die den Deutschen Schulpreis vergibt, bundesweit nach guten Beispielen sucht. An dieser Schule läuft Schulentwicklung in konzentrischen Kreisen. Nicht alles Neue wird von Anfang an in gleicher Intensität angegangen. Themen kommen irgendwann wieder und werden neu betrachtet.
Vertrautes wird intensiviert, Neues zunächst einmal ausprobiert. Genau dazu gab und gibt Vielfalt fördern eine gute Gelegenheit.
Die Schülerinnen und Schüler profitieren ebenfalls von der Fortbildung ihrer Lehrerinnen und Lehrer, zum Beispiel durch die durchgehende Arbeit mit dem Wochenplan (s. Stichwort), der die Abstimmung und den Überblick über die Entwicklungsschritte jedes einzelnen Kindes bzw. Jugendlichen erleichtert und präzisiert. "In der Fortbildung war wirklich in jedem Baustein etwas für uns dabei, selbst bei Teambildung, Diagnostik und Classroom Management, wo wir uns ja schon sehr gut auskannten. Und jetzt haben wir auch noch die Strukturen, um uns darüber auszutauschen. Wir arbeiten ja sowieso alle sehr eng miteinander. Aber selbst wenn wir zu zweit in der Klasse sind, kamen wir trotzdem relativ selten dazu, zu überlegen: Wie bin ich eigentlich, wenn ich unterrichte? Wir blicken jetzt noch stärker gemeinsam auf die Kinder" (Marion Zähring).
Was hat sich das Kollegium der Ruth-Cohn-Schule noch vorgenommen? Antwort gibt Sarah Engel aus der Steuerungsgruppe: "Im Klassenteam läuft es jetzt super, im Stufenteam auch und jetzt wollen wir daran arbeiten, die Teams im Gesamtkollegium noch stärker zusammenzubringen."
Fazit: Wer sich an die Ruth-Cohn-Schule bewirbt, der weiß, was ihn erwartet: viel Freiheit, hohe Verantwortung, starke Teams, ein durch und durch chancenorientiertes Kollegium. Die Schule achtet darauf, dass neue Kolleginnen und Kollegen den Geist des Miteinanders verstehen, sich eine vergleichbare Grundhaltung erarbeiten und sich im Miteinander und in der Form der Ansprache der Schülerinnen und Schüler anpassen.
Wochenplan
Die Arbeit mit dem Wochenplan hat zwei Ziele: Zum einen erfahren die Schülerinnen und Schüler, welche Arbeitsleistungen im Unterricht erwartet werden. Zum anderen hilft sie den Kindern, diese Aufgaben in eigener Regie zu bearbeiten. So sieht er aus: Auf einem Wochenplan ist für jede Schülerin und jeden Schüler verzeichnet, welche Aufgaben sie oder er innerhalb einer Woche bearbeiten soll. Lerngeschwindigkeit, die Anteile von Wiederholungen, Schwerpunkte und die Reihenfolge der Aufgaben bestimmen die Schülerinnen und Schüler selbst. Wochenpläne eignen sich deshalb gut zur individuellen Förderung. Vorlagen gibt es kostenlos im Internet.
Interview mit Schulleiterin Claudia Brozio
Steckbrief
Die Ruth-Cohn-Schule in Arnsberg, gegründet 2005, ist eine Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung Sekundarstufe I in Trägerschaft des Hochsauerlandkreises. Die Zuweisung zur Schule erfolgt über das Schulamt auf Grundlage eines Gutachtens auf Wunsch der Eltern. Die Bildungsinhalte orientieren sich an Kompetenzen aus dem Spektrum der Hauptschule. Bei Schülern mit überdurchschnittlicher Begabung, klarer Stabilisierung im Verhaltensbereich und vorhandenen Lernstrukturen können aber auch Lernangebote auf dem Kompetenzniveau der Realschule gemacht werden. Zielsetzung ist die Vermittlung von schulischen Inhalten zum Erreichen des Schulabschlusses 10A. Bei entsprechender Motivation, Arbeitsbereitschaft, Leistungsfähigkeit und klarem Engagement kann auch der 10B-Abschluss erreicht werden.
Mehr Infos: www.ruth-cohn-schule.de