Autorinnen: Inge Michels und Angela Müncher
Die Willy-Brandt-Gesamtschule wurde 1990 in Bottrop als zweite Gesamtschule der Stadt gegründet. Sie ist eine sechszügige Schule mit ca. 1.300 Schülerinnen und Schülern und ca. 100 Lehrerinnen und Lehrern. In der Sekundarstufe I gibt es pro Jahrgang sechs Klassen, die Sekundarstufe II wird vierzügig geführt. Obwohl sich der Einzugsbereich der Schule auf das ganze Stadtgebiet mit den Schwerpunkten des Bottroper Nordens und der Stadtmitte bezieht, gehört die Kooperation mit Vereinen und Verbänden der Nachbarschaft zur Tradition der Schule und prägt den Stadtteil.
In ihrer pädagogischen Arbeit fühlt sie sich dem Namensgeber Willy Brandt und seinem Engagement verpflichtet. Sie tritt nicht nur für mehr Chancengleichheit in der Gesellschaft ein, sondern will mit ihren Schülerinnen und Schülern und für diese Vorbild für Vielfalt sein.
Die Fortbildung Vielfalt fördern kam für die Willy-Brandt-Gesamtschule in Bottrop genau zur rechten Zeit. Die Qualitätsanalyse (ein verpflichtendes externes Evaluationsverfahren in NRW) bescheinigte der Schule ihre gute Arbeit. Eine Sache legte sie Schulleitung und Schule jedoch nahe: Sie sollte Strukturen dafür legen, dass der Unterricht systematisch weiterentwickelt werden kann und Kolleginnen und Kollegen anregen, in professionellen Teams zu arbeiten. Nach Überlegungen und Diskussionen in der Lehrerkonferenz entschied sich die Mehrheit des Kollegiums daraufhin, sich um die Teilnahme am Programm Vielfalt fördern zu bewerben. Man wollte diese Fortbildung als Chance zu nutzen, die Hinweise aus der Qualitätsanalyse nach mehr Unterrichtsentwicklung und Teamarbeit aufzugreifen.
Die Erfahrung in sogenannten Teamschulen zeigt: Wo das Denken und Arbeiten in Teams gelingt, bestimmt es letztendlich den Unterricht. Oder anders: "Der Grad der Verbreitung von Lehrerkooperation lässt Rückschlüsse auf den Grad der möglichen Verbreitung von systematischer Unterrichtsentwicklung zu." (Johannes Bastian und Otto Seydel in ihrem Aufsatz "Teamarbeit und Unterrichtsentwicklung". Pädagogik 62, 2010, S. 6/7 Beltz.)
Allerdings: Teamarbeit kann nicht verordnet werden. Immer noch kommt das Arbeiten in Teams in vielen Schulen einem Paradigmenwechsel gleich, der Routinen im Unterrichtsalltag auf den Kopf stellt. Gemeinsam geplante Unterrichtsvorbereitung oder gar kollegiale Hospitationen müssen Lehrerinnen und Lehrer wollen, sich Zeit zum Ausprobieren nehmen und dann entscheiden, was und wie es für die eigene Schule sinnvoll ist. Und: Auf dem Weg zu einer Teamschule muss die Schulleitung bereit sein, Macht und Einfluss zu teilen. Aus Sicht manchen Skeptikers ließ sich die Willy-Brandt-Gesamtschule somit auf ein Programm ein, das wie ein Experiment mit ungewissem Ausgang erschien. Und das waren die ersten Schritte.
Unterrichtsentwicklungsgruppe: Orientierung für das ganze Kollegium
Als große Schule hatte sich die Gesamtschule entschlossen, nicht mit dem gesamten Kollegium, sondern mit einer Teilgruppe (den beiden Jahrgängen 5 und 9) zu starten und weitere Jahrgänge in den kommenden Jahren fortbilden zu lassen. Damit war zum einen eine hohe Koordinationsaufgabe für die Unterrichtsentwicklungsgruppe verbunden, deren Arbeit für die Schule ein Novum darstellte. Alexandra Beckmann, Sprecherin der Unterrichtsentwicklungsgruppe im Programm Vielfalt fördern, blickt zurück: "Es gab im Programm die Voraussetzung, dass es eine Steuergruppe gibt, die diese Fortbildung begleitet. Da wir ein solches Gremium bisher nicht hatten, haben wir in einer Lehrerkonferenz die sogenannte Unterrichtsentwicklungsgruppe gegründet und diejenigen Kollegen, die Interesse an Unterrichtsentwicklung hatten, gebeten, sich dafür zu bewerben. Dann bekamen wir zum Glück noch eine grundlegende Fortbildung, an der alle Mitglieder der Unterrichtsentwicklungsgruppe teilnehmen konnten; wir waren zuerst zu siebt, später zu sechst – und dann fingen wir direkt mit der Arbeit an."
Die Unterrichtsentwicklungsgruppe ist zuständig für die Abstimmung mit den Moderatoren und übernimmt eine Mittlerfunktion innerhalb des Kollegiums. Die Wünsche der Kolleginnen und Kollegen in den Jahrgängen 5 und 9 wurden dafür abgefragt. Anfangs wurde die Gruppe noch eher misstrauisch betrachtet, doch je weiter die Arbeit im Programm voranging und man begann, die Arbeit der Teams zu verstehen und zu schätzen, umso mehr schwanden die Bedenken. Mit dem Implementieren einer Unterrichtsentwicklungsgruppe erweiterte sich folglich nicht nur das Gremienportfolio der Schule um ein weiteres Organ. Nach und nach veränderten sich auch die Arbeitskultur und die Zusammenarbeit. Teamstrukturen für Unterrichtsentwicklung wurden eingeführt, ebenso regelmäßige Dienstbesprechungen von Teamsprechern (s. dazu Interview mit Schulleiter Jochem von Schwerdtner). Rückblickend ist zu erkennen, dass die Unterrichtsentwicklungsgruppe und das konzentrierte Arbeiten in Teams eine wichtige Orientierungsfunktion für das gesamte Kollegium übernommen hatten, deren Konsequenz letztendlich auf alle ausstrahlte.
Insbesondere für die Abstimmung mit den Moderatorinnen war die Unterrichtsentwicklungsgruppe der Willy-Brandt-Gesamtschule entscheidend für den Erfolg des Programms. Vor jeder Fortbildungssequenz wurden mit den Moderatoren die Anliegen der Gesamtschule besprochen. Dabei lernten sich Schule und Moderatoren von Mal zu Mal besser kennen, bis die Angebote der Fortbildung optimal mit dem Profil des Kollegiums abgestimmt waren. Dieses Feintuning war insbesondere dort hilfreich, wo das Kollegium bereits eine ausgeprägte Expertise besaß, etwa in den kooperativen Lernformen. Dazu hatte es eine eigene Fortbildung absolviert. Nach kurzer Abstimmung wechselten die Lehrkräfte der Gesamtschule zu diesem Thema in die Rolle der Referenten und präsentierten den Kolleginnen und Kollegen innerhalb des Moduls Didaktik in einem Museumsgang ihre Kenntnisse und Erfahrungen.
Knackpunkt Unterrichtshospitation
Die Willy-Brandt-Gesamtschule mit rund 100 Personen im Kollegium und etwa 1.300 Schülerinnen und Schülern konnte und wollte allerdings auch nicht alles eins zu eins umsetzen. Gerade in Bezug auf die kollegiale Unterrichtshospitation stellte die Unterrichtsentwicklungsgruppe selbstkritisch fest: "Das war ein großer Knackpunkt. Da hat die Fortbildung einen großen Schwerpunkt drauf gelegt. Wir haben aber festgestellt: Das ist in so einer großen Schule kaum genauso umzusetzen, wie es geplant war." Und so empfanden die Lehrerinnen und Lehrer der Schule die kollegiale Unterrichtshospitation zwar während des Programms als enorm hilfreich, konnten sich aber nur schwer vorstellen, eine Routine zu entwickeln, die diese Form des kollegialen Feedbacks im Schulalltag umsetzbar machen würde. Die Unterrichtsentwicklungsgruppe reflektiert: "Die kollegiale Unterrichtshospitation war innerhalb der Fortbildung sehr, wirklich sehr hilfreich. Wir haben es dann auch danach versucht: Wir haben ja alle einen Probedurchlauf gemacht, wir haben auch Termine festgehalten, wann wer wen besucht, und wir haben die Nachbesprechung terminiert. Und wenn die Nachbesprechung nicht direkt im Anschluss erfolgte – was manchmal einfach nicht ging –, dann ist das auch nicht so sinnvoll. Aber wir denken, die kollegiale Unterrichtshospitation haben alle als sinnvoll empfunden. Aber das als generelle Einrichtung, als Dauereinrichtung zu etablieren, das ist, glaube ich, bei uns eher schwierig. Der Aufwand ist an einer so großen Schule schon sehr hoch. Auch wenn der Enthusiasmus da war und ist."
Heute hat jedes Team seinen Raum
Die im Rahmen der Fortbildung eingerichteten Teams treffen sich einmal in der Woche, um sich abzusprechen und Vereinbarungen festzuhalten – diese Treffen sind für alle Klassenlehrerteams fest im Stundenplan verankert und Teil der Arbeitszeit. Ermöglicht wurde dies durch den Schulleiter, dem die Teamstrukturen sehr am Herzen liegen, und durch die Stellvertreterin des Schulleiters, die sich um die entsprechende Verankerung im Stundenplan gekümmert hat.
In jedem Team gibt es einen Teamsprecher, der die Sitzung leitet, ein anderer protokolliert. Zu Beginn des Schuljahres 2015/2016 wurde ein weiteres Gremium eingerichtet, um mehr Transparenz herzustellen: das Teamsprechertreffen. Daran nehmen neben den Teamsprechern die Schulleitung 3 und die Unterrichtsentwicklungsgruppe teil.
Was inzwischen gut funktioniert, startete mit etwas Ruckeln im Kollegium. Alexandra Beckmann erklärt: "An unserer Schule gibt es viele verschiedene Lehrerarbeitsräume. Das ist für die Entwicklung einer Teamstruktur eigentlich eine gute Voraussetzung. Aber es hatte sich über die Jahre eingespielt, dass sich in bestimmten Arbeitsräumen diejenigen Kolleginnen und Kollegen trafen, die sich gut kannten, gut verstanden und viel gemeinsam machten. Das waren fast Freundeskreise geworden, sozusagen schulische Peergroups unter Erwachsenen, kleine Oasen im Schulalltag. Von diesen Strukturen wollte man sich natürlich nicht gerne lösen; manche hingen sehr daran. Letztendlich glaube ich, dass es gut war, dass wir nicht gedrängt haben, sondern den Teamgedanken wachsen ließen. Heute hat jedes Team seinen Jahrgangsraum mit Telefon, PC, Drucker, Flipchart. Das hat das Arbeiten noch einmal sehr angenehm gemacht. Und: Manche Teams treffen sich auch privat, zum Grillabend zum Beispiel."
Heute profitiert die Schule von der Teamarbeit sehr deutlich. Die beteiligten Pädagogen sprechen von Arbeitserleichterung. Klassenarbeiten werden zum Beispiel zunehmend gemeinsam erstellt, Klassenfahrten abwechselnd organisiert und Elternbriefe abwechselnd geschrieben. Auch der Blick auf die Schülerinnen und Schüler hat sich verändert. Man tauscht sich im Team gezielter über einzelne Kinder aus, überlegt, welche Unterstützungen fächerübergreifend angebracht sein könnten.
Claudia Hölscher, Mitglied der Unterrichtsentwicklungsgruppe, hält fest: "Wir haben unsere Teamsitzung immer dienstags in der zweiten Stunde. Das ist fest verankert und enorm hilfreich. Uns ist aufgefallen, dass durch die Teamräume auch die Wege kürzer geworden sind. Wir sind nicht mehr darauf angewiesen, uns zufällig auf dem Gang oder irgendwo anders zu treffen. Selbst die eine oder andere Lehrerkonferenz wird abgesagt, weil vieles bereits in den Teams geklärt werden konnte. Eine andere Erleichterung: Die Teams haben im Prinzip auch ihr Classroom Management gemeinsam strukturiert und eine einheitliche Linie gesucht. Da hat man ja viel mehr Anknüpfungspunkte gehabt als früher, als es die Teams so noch nicht gab. Das hat auch die Kollegen beeindruckt."
Effekt der Selbstprofessionalisierung
Hervorgehoben wird auch der Effekt der Selbstprofessionalisierung, der sich zum Beispiel in der Integration neuer Kolleginnen und Kollegen, auch der Referendare, niederschlägt. Alexandra Beckmann hält fest: "Und jetzt ist es so, dass die neuen Kolleginnen und Kollegen und Referendare ein Anrecht haben, in diesem oder jenem Team zu sein. Sie müssen sich nicht erst vorsichtig orientieren und ihren Platz finden. Das ist für sie viel einfacher geworden, weil sie natürlich auch schnell ins Kollegium integriert werden. Wir haben jetzt zwei junge Kolleginnen, die bei uns im fünften Jahrgang eingestiegen sind, und die profitieren natürlich von unseren Erfahrungen. Wir wachsen dadurch als Kollegium immer noch besser zusammen."
Fazit
Der Willy-Brandt-Gesamtschule ist es innerhalb von drei Jahren gelungen, sich auf einen erfolgversprechenden Weg zu einer Teamschule zu machen, die Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen mitzunehmen und ihre Unterrichtsentwicklung systematisch gemeinsam voranzubringen. Damit hat die Schule vorgemacht, wie es gelingen kann, die häufig kritisierte Einzelkämpfer- Mentalität an vielen deutschen Schulen – geschuldet sowohl individuellen Bedenken als auch strukturellen Hemmnissen und Traditionen – aufzubrechen. In klugen, durchaus kontroversen Abwägungsprozessen setzen Schulleitung und Kollegium ihre Schritte und machen damit all jenen Schulen Mut, die sich ebenfalls mit dem Gedanken befassen, das Experiment Aufbau von entwicklungswirksamen Arbeits- und Organisationsstrukturen zu wagen.
Nachgefragt: Was war der größte Gewinn für den Unterricht?
Danach gefragt, wovon die Schule konkret im Unterricht am stärksten profitiert, werden neben den Teamstrukturen die differenzierenden Materialien und anwendungsbezogenen Bausteine für den Unterricht genannt, die in der Fortbildung erarbeitet und von dem gesamten Jahrgang der Schule aufgegriffen und eingeführt wurden. Diese konnten die Kollegen direkt für ihren Unterricht nutzen und in ihren Teams weiter entwickeln. Claudia Hölscher fasst zusammen: "Die Fortbildung hat für uns im unterrichtsinhaltlichen Bereich richtig viel gebracht. Mir fällt es jetzt leichter als vorher, differenzierende Aufgaben zu erstellen. Vorher wusste ich nicht genau, wie ich da rangehen sollte. Die Fortbildung mit ihren speziellen Modulen hat uns Zeit gegeben, an dem didaktischen Material zu arbeiten. Da kommt man ja sonst viel zu selten zu."