Ein Interview von Inge Michels und Angela Müncher.
Vielfalt fördern in der Reflexion: Ein Gespräch mit Heike Sulimma (Schulaufsichtsbeamtin für Grundschulen und Leiterin des Kompetenzteams Kooperationsmodell Plus für Bottrop und Gelsenkirchen), Dorothee Gühlstorf (Co-Leiterin im Kompetenzteam) und Gerd Dombrowski vom kommunalen Bildungsbüro für die Stadt Gelsenkirchen.
Gelsenkirchen und Bottrop gehören zur zweiten Generation von Vielfalt fördern. Es ist ungewöhnlich, dass zwei Städte in einem Fortbildungsprogramm so intensiv zusammenarbeiten und auch noch der Kreis Recklinghausen hinzugezogen wurde. Wie kam es dazu?
Dorothee Gühlstorf: Im Zuge der Initialisierung des Projektes hier in Gelsenkirchen wurde schnell klar, dass es vielleicht nur mit den Gelsenkirchener Schulen ein bisschen knapp werden würde. Darum erteilte die Bezirksregierung die Zustimmung, dass Vielfalt fördern in Bottrop als Nachbarstadt Fuß fassen kann und auf den Kreis Recklinghausen ausgeweitet werden darf. Es gab allerdings eine Einschränkung: Die Steuerungsprozesse sollten hier laufen und Gelsenkirchen der Mittelpunkt bleiben. Und das ist dann auch so geschehen.
Konnten alle Schulen, die teilnehmen wollten, dabei sein?
Dorothee Gühlstorf: Ja, wir haben alle Schulen, die ins Projekt wollten, bedienen können. Das waren die Martin-Luther-King-Schule, eine Förderschule in Castrop-Rauxel, also im Kreis Recklinghausen, eine große Gesamtschule in Bottrop, die Willy-Brandt-Gesamtschule, und dann eben auch noch Schulen hier in Gelsenkirchen – das sind die Gesamtschule Buer-Mitte, die nach einem Dreivierteljahr leider das Projekt verlassen hat, die Gesamtschule Erle, die sich noch im Aufbau befindet, und die Sekundarschule Hassel.
Woher kamen die Moderatorinnen und Moderatoren für die sechs Schulen?
Heike Sulimma: Wir haben den Hauptteil der Moderatorinnen und Moderatoren hier aus Gelsenkirchen rekrutiert; es ist aber auch eine Moderatorin aus Bottrop im Team und zwei sind aus Recklinghausen dabei.
Kann man sagen, dass durch die Ausweitung der Fortbildung auf zwei Städte und einen Kreis die ganze Region von Vielfalt fördern in irgendeiner Weise berührt wird?
Gerd Dombrowski: Sagen wir so: Wenn es das Projekt nicht gegeben hätte, hätte man es zumindest für Gelsenkirchen erfinden müssen. Wir stehen vor einer großen Menge an Herausforderungen, gerade auch für die schulische Arbeit, durch die Kinder von Zuwanderer- und Flüchtlingsfamilien, durch Armut und die ganze Bandbreite, die das Thema "Heterogenität" gerade hier in unserer Region mit sich bringt. Insofern sind wir sehr froh, dass das Projekt in diese Region gekommen ist. Ein anderer Punkt ist, dass wir natürlich schon seit längerer Zeit im Sinne gelingender Bildungsbiografien arbeiten. Wir haben, seit es das Bildungsbüro gibt, die gesamte Bildungsbiografie der Menschen hier von Kindesbeinen an bis zur Weiterbildung im Blick. Wir wollen und müssen Bildungsteilhabe steigern, zum Beispiel die Quoten der Schulabschlüsse erhöhen und die der Schulabbrecher verringern. Es gibt deshalb viele Maßnahmen, die vor der Schule präventiv starten, im Grundschulbereich weitergeführt und in den weiterführenden Schulen fortgesetzt werden. Unser Oberbürgermeister hat es vor Jahren mal gesagt: "Die Zukunft der Stadt Gelsenkirchen geht jeden Tag durch die Türen der Kitas und Schulen."
… ein richtiges und wichtiges Zitat, das ja so für jede Stadt und jede Region gilt …
Gerd Dombrowski: … und das darf ich vielleicht an dieser Stelle auch einmal sagen: Die Zusammenarbeit bei Vielfalt fördern ist auch eine Initialzündung gewesen für eine optimierte Zusammenarbeit zwischen Kompetenzteam und Bildungsbüro. Das hat wiederum Synergieeffekte an allen Ecken und Enden.
Wie haben die Schulen das Projekt, das ja für Gelsenkirchen ganz wichtig ist, wie Sie gesagt haben, genutzt?
Dorothee Gühlstorf: Sie haben es alle zur systemischen Schulentwicklung genutzt. Jede Schule hat aus ihrem System heraus andere Facetten einer systemischen Schulentwicklung in den Mittelpunkt gestellt. Die große Willy-Brandt-Gesamtschule in Bottrop hat sich zu einer Teamschule etabliert. Teamstrukturen wurden weiterentwickelt und optimiert. Teamlehrerzimmer wurden eingerichtet, um die äußeren Rahmenbedingungen für die wirklich gut funktionierenden Teams zu schaffen. Die Sekundarschule Hassel und auch die andere Gesamtschule im Aufbau in Erle haben ihren Aufbauprozess durch das Projekt gestützt. Das hat dazu geführt, dass die Lehrerkollegien aus den unterschiedlichen Schulen sich ganz schnell in Teamarbeitsstrukturen einfanden. Und die Förderschulen haben ihren besonderen Aspekt auf kollegiale Hospitation gelegt und auch noch einmal auf Teamentwicklung.
Welche Rolle spielt bei diesen Entwicklungen das Bildungsbüro?
Gerd Dombrowski: Die inhaltliche Schwerstarbeit liegt natürlich beim Kompetenzteam. Wir vom Bildungsbüro haben vor allem Organisationsunterstützung und Vernetzung geleistet. Dazu gehören auch Öffentlichkeitsarbeit und die Information der politischen Gremien, in erster Linie des Ausschusses für Bildung. Über Vorlagen haben wir Vielfalt fördern in die Ausschussarbeit eingebracht, an den Terminen teilgenommen – und das zieht dann Kreise und wurde sehr positiv aufgenommen. Ich bin auch bei den überregionalen und regionalen Treffen von Vielfalt fördern dabei gewesen, um mich inhaltlich auf dem Laufenden zu halten. Dabei habe ich auch immer wieder positive Rückmeldung gerade von den Kolleginnen und Kollegen aus den Schulen bekommen. Vielfalt fördern – auf der einen Seite ein Batzen Arbeit, aber auf der anderen Seite große Sinnhaftigkeit – wurde auf diesen Treffen immer wieder als Motorfunktion für Schulentwicklung benannt.
Stichwort Schulentwicklung: Hier spielen auch die Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle, oder?
Heike Sulimma: Ja, denn Schulentwicklungsprozesse, die ja vom Land gewünscht und auch das Thema im Bereich der Lehrerfortbildung sind, funktionieren nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Das wurde bei Vielfalt fördern glücklicherweise auch beachtet: Die Schulen werden nämlich mit jeweils vier Stunden entlastet und sie nutzen pädagogische Tage für die Fortbildung. Das ist im Grunde eine Finanzierung durch das Land. Auch die Moderatorinnen- und Moderatorenstunden werden gestellt. Das alles macht definitiv deutlich, wie stark sich Land und Bezirksregierung für Schul- und Unterrichtsentwicklung engagieren und ihre personellen, aber auch finanziellen Ressourcen dort investieren.
Blicken wir noch einmal auf den Verlauf des Programms, auf den Prozess: Woran machen Sie die Qualität fest?
Gerd Dombrowski: Ich fand es clever, dass vorgegeben wurde: Vielfalt fördern startet nur dort, wo es eine hohe Akzeptanz aller Beteiligten in der Schule gibt. Wir haben nämlich bei anderen Maßnahmen festgestellt, dass Schulleitungen solche Programme fast durchweg gerne befürworten. Es gibt Kollegien, die sich abwartend verhalten und ganz bewusst überlegen: "Passt das? Wollen wir das auch noch? Können wir das stemmen?" Wir haben uns bei manchen Schulen gefragt: "Wieso ist die denn jetzt nicht dabei?" In Gesprächen wurde dann deutlich, dass sie bereits in anderen Projekten engagiert und aktiv arbeiten. Ich sage also: Die Messlatte für die Qualität von Vielfalt fördern ist nicht die Zahl der Schulen, sondern es sind die erzielten Entwicklungsschritte an jeder Schule, die mitgemacht hat. Das ist für mich der Qualitätsindikator.
Dorothee Gühlstorf: Da kann ich mich anschließen – auch ich denke, dass der Prozess sich immer dann qualitativ gut gestaltet, wenn der Einstieg ins Projekt von einer großen Mehrheit des Kollegiums befürwortet wird. Das ist aber nicht der einzige Faktor. Mindestens genauso wichtig sind kompetente Moderatorinnen und Moderatoren, die fachlich top und sind und souverän im Umgang mit den 5 Lehrerinnen und Lehrern. Dazu gehört auch ein gewisses Gespür für Stimmungen im Kollegium, für die Bedarfe, die da sind, und den Umgang mit ihnen. Dabei hilft eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der schulischen Steuergruppe für Vielfalt fördern und den Moderatorinnen und Moderatoren, in der offen gesprochen und lösungsorientiert gearbeitet wird.
Was haben Sie auf den Veranstaltungen mit den Schulen konkret gehört? Was empfinden diese selber als Entwicklungsschritte?
Dorothee Gühlstorf: Ich erinnere mich an das erste Austauschtreffen zum Modul 1, Teambildung. Auf unsere Frage nach Veränderungen kamen ganz unterschiedliche, sehr schulspezifische, aber auch in Teamgedanken verhaftete Antworten. Man berichtete uns zum Beispiel über eine veränderte Einstellung der bereits vorhandenen Teams. Die Kooperation hätte sich verändert, es würde zukunftsorientierter gedacht. Eine andere Schule war froh über den intensiveren Austausch unter den Kolleginnen und Kollegen, der durch die kollegiale Unterrichtshospitation entstanden sei. Interessant war auch, dass eine Schule selbstkritisch sagte: Wir mussten liebgewonnene Gewohnheiten aufgeben, um gemeinsam Standards zu formen. Dann ging es immer wieder darum, dass Unterricht gemeinsam vorbereitet wird, dass Parallelarbeiten eingeführt wurden. Das ist ja etwas, was an vielen Schulen nicht gang und gäbe ist, aber mithilfe von Vielfalt fördern realisiert werden konnte.
Haben Sie diese Treffen mit den Moderatorinnen und Moderatoren gemeinsam vorbereitet?
Dorothee Gühlstorf: Ja, und wir haben diese Gesprächsanlässe dann so strukturiert, dass die unterschiedlichen Schulen zusammenkamen, dass sie nicht nur in ihrem System haften blieben, sondern sich wirklich untereinander austauschen konnten – sozusagen als Mini-Fortbildung innerhalb der großen Fortbildung. Ich habe dabei wahrgenommen, dass diese Austauschtreffen sehr gewünscht waren. Die Schulen waren meistens komplett mit der gesamten Steuergruppe des Projektes vertreten. Das finde ich bemerkenswert.
Gerd Dombrowski: Ich habe gerade ein Bild aus der letzten Veranstaltung vor Augen. Nach der Arbeitsphase hatten sich Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Schulen noch an einem Thema festgebissen, intensiv diskutiert und dann zückten sie plötzlich alle ihre Terminkalender. Also mehr kann man eigentlich gar nicht erwarten!
Wie schätzen Sie die Nachhaltigkeit dieser von Ihnen beobachteten Entwicklungsschritte ein?
Heike Sulimma: Das ist noch schwer zu sagen. Was aber deutlich wurde, ist, dass die Nachhaltigkeit und die Frage "Wie geht es weiter" diskutiert werden.
Mittels einer SWOT-Analyse wurden Stärken und Schwächen des Projektes in den Projektschulen spezifisch aufgezeigt. Und anhand der Ergebnisse haben die Schulentwicklungsberater dann mit den Kollegen überlegt: Wie kann es konkret an unserer Schule weitergehen? Man wünschte sich auch eine weitere Begleitung durch Moderatorinnen und Moderatoren über den Projektzeitraum hinaus. Das heißt, dass eine Begleitung durch das Kompetenzteam bzw. durch entsprechende 6 Fortbildungsangebote schon wünschenswert ist.
Gerd Dombrowski: Von der Gesamtschule Erle habe ich mehrere Rückmeldungen zum Stichwort Nachhaltigkeit. Ich nehme mal ein Zitat als Beispiel: "Seit wir in Vielfalt fördern sind, arbeiten wir mit Lerntagebüchern. Sie sind zu einem Baustein unseres Schulprogramms geworden, der auch dann noch Bestand hat, wenn wir nicht mehr da sind." Ganz abgesehen davon, dass das Arbeiten in Teams, dass Teamstrukturen und Teamräume dort inzwischen zum normalen Schulalltag gehören.
Dorothee Gühlstorf: Wir haben in jede Steuergruppe pro Schule eine Schulentwicklungsberaterin, einen Schulentwicklungsberater plus einen Moderator aus dem Projekt für eine Arbeitsphase zusammengebracht, in der es darum ging: Welche Inhalte sind denn jetzt aus dem Projekt für nachhaltige Schulentwicklung weiterzuführen? Und wir haben im Rahmen dieser Arbeitsphase auch unseren Auftrag und unsere Aufgabe im Rahmen der staatlichen Lehrerfortbildung deutlich gemacht. Wir stellen den Schulen auf ihrem Weg zur systemischen Schulentwicklung unsere Expertise durch unsere Schulentwicklungsberater zur Verfügung. Der Aufschlag ist gemacht und wir stehen auch nach Abschluss des Projektes als Kompetenzteam in Gelsenkirchen/Bottrop für die Schulen bereit.
Noch eine Frage zur Nachhaltigkeit, aber zu einem anderen Aspekt. Mit Vielfalt fördern war eine intensive Kooperation zwischen Bildungsbüro und Kompetenzteam verbunden. Sie hatten die gute Zusammenarbeit am Anfang des Gespräches schon erwähnt. Bleibt diese Nähe bestehen?
Gerd Dombrowski: (lacht) Wir sind richtig schön aneinandergerückt, Kompetenzteam und Bildungsbüro. Das macht Spaß, das darf man an der Stelle auch mal sagen. Aber noch etwas anderes: Die Landschaft explodiert ja zurzeit förmlich in Sachen Schulentwicklungsvorhaben und entsprechender Maßnahmen unterschiedlicher Anbieter. Da gibt es natürlich schon mal Abstimmungs- und Abwägungsprozesse. Aber wir arbeiten auch zusammen an dem sogenannten Gelsenkirchener Weg der schulischen Inklusion. Das ist ja etwas, was zeitlich nach Vielfalt fördern entstanden ist. Da war es sehr förderlich, dass wir auf etablierte Strukturen der Zusammenarbeit zurückgreifen konnten. Und wir sitzen in einem Haus, der kurze Dienstweg kann immer genutzt werden. Also, das ist schon sehr schön, das macht Spaß.