London bei Sonnenuntergang

Brexit: Das schwächste Glied in der Produktionskette?

Zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich bestehen enge Produktionsverflechtungen, die durch den Brexit bedroht werden. Eine neue Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt, in welchen Branchen besonders enge Wertschöpfungsketten bestehen und daher aufgrund des Brexit die höchsten Kosten entstehen könnten.

Deutschland ist für Großbritannien der zweitwichtigste Exportmarkt (nach den USA), umgekehrt ist Großbritannien für Deutschland der viertwichtigste Exportmarkt. Deutschland bezieht waren und Dienstleistungen im Wert von 115 Milliarden Euro aus Großbritannien, Großbritannien hingegen immer noch 70 Milliarden Waren und Dienstleistungen aus Deutschland. Der Brexit führt unweigerlich dazu, dass die Handelskosten steigen werden. Welche Auswirkungen das auf Wertschöpfungsketten zwischen den beiden Ländern hat, untersucht eine neue Studie.

Unter Wertschöpfung wird der zusätzliche Wert verstanden, den ein zusätzlicher Produktionsschritt einem Zwischenprodukt hinzufügt. In Im- und Exportstatistiken lässt sich nachvollziehen, wie viel Wertschöpfung entlang einer Produktionskette in jedem beteiligten Land geschaffen wurde. Die vorliegende Studie untersucht auf dieser Basis, wie viel britische Wertschöpfung in deutschen Branchen verarbeitet wird und umgekehrt, wie viel deutsche und europäische Wertschöpfung in britischen Branchen verarbeitet wird. Da in Folge eines Brexit die Handelskosten steigen werden, besteht in den deutschen Branchen, die besonders eng mit Großbritannien verzahnt sind, ein Anpassungsbedarf. Das heißt: Entweder geben die Unternehmen erhöhte Produktionskosten an die Kunden weiter oder die Produktion muss auf andere Standorte außerhalb Großbritanniens ausweichen. Eine Vorleistung im Automobilsektor, die gegenwärtig von Großbritannien nach Deutschland für 100 Euro importiert wird, wäre bei Handel nach WTO-Regeln auf einmal 10 Euro teurer, aufgrund der nun fälligen Zölle. Wenn ein anderer Hersteller in der EU die gleiche Vorleistung für 105 Euro erbringen kann, ist er jetzt günstiger als der britische Dienstleister. Aber immer noch teurer als im Falle eines zollfreien Handels. Dies macht das Endprodukt für den Verbraucher teurer.

Für Deutschland zeigt die Studie, dass es in einzelnen Branchen erheblichen Anpassungsbedarf gibt, tendenziell aber eher in Branchen, die einen geringeren Anteil an der Gesamtwertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft haben (siehe Grafik).

Für Großbritannien zeigen die Autoren, dass der Anpassungsbedarf deutlich höher liegt und eher auch in volkswirtschaftlich signifikanten Branchen besteht.

In Wertschöpfungsketten wird jeder Arbeitsschritt durch den besten Anbieter durchgeführt. Werden sie durch Zölle künstlich verformt, geht das auf Kosten des Preises und der Qualität. Das trifft Produzenten und Verbraucher. Auch in Deutschland, am stärksten aber in Großbritannien.

Christian Bluth, Wirtschaftsexperte und Studienleiter der Bertelsmann Stiftung

Welche deutschen Branchen sind am stärksten betroffen?

Für Deutschland sind die wichtigsten Exportbranchen von Wertschöpfung in das Vereinigte Königreich Unternehmensdienstleistungen (4,2 Milliarden Euro), Großhandel (3,8 Milliarden Euro), Pharma (3,6 Milliarden Euro), Automobilindustrie (3 Milliarden Euro) und Chemie (2,9 Milliarden Euro). Die wichtigsten deutschen Branchen für die Wertschöpfung aus Großbritannien sind ebenfalls die Automobilindustrie (4,9 Milliarden Euro) und der Maschinenbau (2,6 Milliarden Euro), aber auch das Baugewerbe (2,6 Milliarden Euro), die Nahrungsmittelindustrie (2,1 Milliarden Euro) und der Bergbau (1,9 Milliarden Euro).

Betrachtet man die Bedeutung des Wertschöpfungshandels in Relation zur gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung einer Branche, ergibt sich ein anderes Bild. Die Bedeutung des Wertschöpfungshandels zeigen wir durch einen branchenspezifischen Abhängigkeitsindex, der sich aus den Wertschöpfungsimporten und -exporten eines Sektors zusammensetzt. In Deutschland weisen die Branchen Pharma, Metallbearbeitung, Kokerei,sonstiger Fahrzeugbau und Chemie, Kraftwagenbau, Maschinenbau, wirtschaftliche Dienstleistungen, Großhandel und Pharma  absolut die stärkste Abhängigkeit vom Vereinigten Königreich auf.

Welche britischen Branchen sind am stärksten betroffen?

Für das Vereinigte Königreich sind die wichtigsten Exportbranchen von Wertschöpfung nach Deutschland der Großhandel (2,9 Milliarden Euro), die Rechts- und Steuerberatung (2,9 Milliarden Euro), Unternehmensdienstleistungen (2,8 Milliarden Euro), der Bergbau (2,7 Milliarden Euro) und Finanzdienstleistungen (1,9 Milliarden Euro). Die wichtigsten britischen Branchen, die Wertschöpfung aus Deutschland importieren, sind Gesundheitswesen (10,1 Milliarden Euro), Automobil (5 Milliarden Euro), Bau (4,7 Milliarden Euro) und öffentliche Verwaltung (3,8 Milliarden Euro). 

Die Branchen Gesundheits- und Sozialwesen, Kraftwagenbau, Baugewerbe und Großhandel weisen absolut die stärkste Abhängigkeit von Deutschland auf. Es gilt jedoch zu beachten, dass sich für Großbritannien in Folge eines Brexit nicht nur die Handelsbeziehungen zu Deutschland sondern zur Gesamt-EU verändern. Betrachtet man die Gesamt-EU, ist der Anpassungsbedarf etwa doppelt so hoch wie für Deutschland allein.

Hintergrundinformationen

Die Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung beruht auf Berechnungen der Prognos AG. Grundlage ist die World Input Output Database (WIOD) für das Jahr 2014, dessen Werte für das Jahr 2017 hochgerechnet wurden.

Wertschöpfung bezeichnet den zusätzlichen Wert, den ein Produktionsschritt schafft. Die Summe der Wertschöpfung der einzelnen Produktionsschritte ergibt den Endwert eines Produktes. Bei internationalen Produktionsketten lässt sich die Wertschöpfung, die in einem bestimmten Land erbracht wird, messen, ebenso wie viel Wertschöpfung in den Vorleistungsimporten aus anderen Ländern und in Exporten in andere Länder enthalten ist. Bei der in diesen Importen und Exporten enthaltenen Wertschöpfung spricht man auch von Wertschöpfungshandel. Der Handel mit Vorleistungen erfasst dagegen lediglich die letzte Wertschöpfungsstufe und weist zudem sämtliche vorgelagerte Wertschöpfungsbeiträge diesem Vorleistungslieferanten zu. Im internationalen Vergleich sind Länder mit geringem Wertschöpfungsanteil im Handel typischerweise Länder, in denen eine einfache Montage von Zwischenprodukten durchgeführt wird.