Die Bertelsmann Stiftung untersucht seit über zehn Jahren den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt. Die aktuellen Ergebnisse einer Befragung von mehr als 5.000 Personen im Oktober 2023 spiegeln die Belastungen und Verunsicherungen der verschiedenen Krisen unserer Zeit wider: Der Gesamtindex für den Zusammenhalt, der Werte zwischen 0 und 100 einnehmen kann, ist im Vergleich zu 2017 und dem Jahresbeginn 2020 um neun Punkte auf einen Wert von 52 gesunken, eine deutliche Verschlechterung. Trotzdem liegt der Indexwert immer noch in der oberen Hälfte der Skala und lässt sich angesichts der vielfältigen Belastungen, denen das Gemeinwesen ausgesetzt ist, als solide interpretieren. Dennoch ist dieser Befund ein deutliches Warnsignal, die Entwicklungen im gesellschaftlichen Gefüge nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Rückgang in allen neun Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Die Untersuchung des gesellschaftlichen Zusammenhalts betrachtet neun unterschiedliche Dimensionen, die sich in drei größere Bereiche gruppieren lassen:
1. Soziale Beziehungen
- Stärke und Belastbarkeit der sozialen Netze
- Vertrauen in die Mitmenschen
- Akzeptanz von Diversität
2. Verbundenheit mit dem Gemeinwesen
- Identifikation mit dem Gemeinwesen
- Vertrauen in Institutionen
- Gerechtigkeitsempfinden
3. Gemeinwohlorientierung
- Solidarität und Hilfsbereitschaft
- Anerkennung sozialer Regeln
- Gesellschaftliche Teilhabe
Die aktuelle Studie verzeichnet in allen drei Bereichen bzw. in allen neun Dimensionen einen Rückgang der Werte. Die geringsten Verluste zeigen sich in den Dimensionen Gesellschaftliche Teilhabe (-3), Vertrauen in Institutionen (-5) und Gerechtigkeitsempfinden (-6). Am stärksten haben die Dimensionen Solidarität und Hilfsbereitschaft (-14), Akzeptanz von Diversität (-13) und Identifikation (-11) verloren. Insgesamt erreicht die Dimension Akzeptanz von Diversität die höchsten (79 Punkte) und die Dimension Gerechtigkeitsempfinden (38 Punkte) die geringsten Werte auf der Skala von 0 bis 100.
Alle Bundesländer verzeichnen Rückgänge
Bereits im Jahr 2022 hatte die Bertelsmann Stiftung die Auswirkungen der Coronapandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Baden-Württemberg untersucht und einen entsprechenden Rückgang festgestellt. Damals lautete die Vermutung, dass sich dieser Trend für ganz Deutschland verallgemeinern ließe. Die aktuellen Daten bestätigen dies. Der Rückgang beim Gesamtindex findet sich somit nicht nur in Deutschland insgesamt, sondern mit einer gewissen Spannbreite auch in allen untersuchten Bundesländern. Die geringste Veränderung weist Hamburg (-5) und die stärkste Sachsen-Anhalt (-13) auf.
Gruppenunterschiede im Erleben des Zusammenhalts
Die Studie betrachtet vier Gruppen, die sich in ihrem Erleben des Zusammenhalts unterscheiden. Die Gruppe der Eingebundenen, die etwa 28 Prozent der Befragten ausmacht und in allen Dimensionen die höchsten Werte aufweist, zeichnet sich im Durchschnitt durch höhere formale Bildung und ein höheres Einkommen aus. Die Mitglieder dieser Gruppe leben tendenziell häufiger in Westdeutschland, haben größeres Vertrauen in die Medien und eine höhere Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Am anderen Ende des Spektrums identifiziert die Studie eine Gruppe von Entfremdeten, die etwa 13 Prozent aller Befragten ausmacht. Die Angehörigen dieser Gruppe erzielen in allen Dimensionen die niedrigsten Werte. Mitglieder dieser Gruppe haben etwas seltener einen Hochschulabschluss, verfügen im Schnitt über ein geringeres Einkommen und leben etwas häufiger in Ostdeutschland. Die Unzufriedenheit mit der Politik ist größer, und das Vertrauen in die Medien ist geringer. Zwischen den beiden Polen der Entfremdeten und der Eingebundenen verortet die Studie zwei große Gruppen (Enttäuschte und Teileingebundene), die mit Anteilen von 27 bzw. 32 Prozent die große Mitte der Befragtengruppe ausmachen.
Starker Zusammenhalt hängt von soliden wirtschaftlichen und demografischen Strukturen ab
Die Ergebnisse der aktuellen Studie bestätigen frühere Analysen, dass die Stärke des gesellschaftlichen Zusammenhalts insbesondere von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in einer Region abhängt. Dort, wo der Wohlstand größer ist und das Armutsrisiko geringer, fällt auch der gesellschaftliche Zusammenhalt stärker aus. Auf regionaler Ebene zeigt sich ebenfalls, dass Regionen, die sich stärker in Richtung einer modernen Dienstleistungsgesellschaft entwickelt haben, im Durchschnitt etwas besser abschneiden als rein industriell geprägte Regionen. Hinzu kommen eindeutige demografische Faktoren, die eine Rolle spielen: In Regionen mit einer wachsenden und jungen Bevölkerung ist der Zusammenhalt ebenfalls im Schnitt stärker als in schrumpfenden und alternden Regionen.
Krisen hinterlassen Spuren
Die gegenwärtige Krisenphase, die in der Coronapandemie begann und unter anderem durch den Ukrainekrieg mit all seinen Folgen bis heute anhält, hat Spuren in der Gesellschaft hinterlassen und den sozialen Zusammenhalt beeinträchtigt. Ob es sich dabei um einen kurzfristigen Kriseneffekt handelt oder um eine nachhaltige Trendumkehr, die letztlich zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann, muss zum jetzigen Zeitpunkt offenbleiben. Dennoch sollten diese Entwicklungen gesellschaftlich und politisch ernst genommen werden. Ein gelingender gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eine Ressource, die sich gerade in herausfordernden Zeiten auszahlt und bei der Bewältigung von Krisen und Transformationen helfen kann. Umgekehrt kann ein geschwächter Zusammenhalt, der nachhaltig beansprucht wird und sich nicht erholen kann, zu einer Bürde werden.
Weder Alarmsignal noch Entwarnung
Die Ergebnisse dieser Studie sind weder ein schrilles Alarmsignal noch ein klares Zeichen der Entwarnung. Die Zeiten sind schwierig, die Diskussionen werden hart geführt und die Zukunft ist vielen Bereichen ungewiss. Gesellschaftlich und politisch tut sich viel. Es stehen für die Demokratie in Deutschland – aber auch weltweit – in diesem Jahr richtungsweisende Wahlen an, und die Zukunftsaufgaben werden keineswegs kleiner. Wer gesellschaftlichen Zusammenhalt mit Konfliktfreiheit, Harmonie und Einmütigkeit verwechselt, wird daher enttäuscht werden.
Auch in Zukunft werden wir gesellschaftliche Debatten führen und Kompromisse finden müssen. Zusammenhalt ist das Band, das trotz gegenläufiger Interessen, Bedürfnissen und Positionen zu einer Einheit führt. Hierfür braucht es vermutlich eher mehr konstruktiven Streit, mehr ernsthafte, an der Sache interessierte Verhandlungen und im allgemeinen Sinne: mehr Politik. Der Wunsch nach einfachen Lösungen, tatkräftigen Anführer:innen und Geschlossenheit entspringt wohl eher dem Unbehagen mit der Volatilität der Gegenwart. Eine vielfältige, sich wandelnde Gesellschaft in Krisenzeiten zusammenzuhalten, bedeutet indes, an komplexen Lösungen und langfristigen Strategien zu arbeiten, miteinander Kompromisse auszuhandeln und Unterschiede zu ertragen, statt sie einzuebnen.
Handlungsempfehlungen
Benachteiligte gesellschaftliche Gruppen stärken: Die Analysen belegen, dass es sowohl einen klaren Zusammenhang zwischen der individuellen sozioökonomischen Lage und dem erlebten Zusammenhalt als auch zwischen strukturellen wirtschaftlichen Gegebenheiten und dem regionalen Zusammenhalt gibt. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Verbesserung der Lebenschancen benachteiligter Gruppen, der Einsatz gegen Armut und Ungleichheit sowie der Abbau regionaler Unterschiede in der Lebensqualität und Wirtschaftskraft zu einem starken Zusammenhalt beitragen können.
Teilhabe ermöglichen: Die Gruppenunterschiede liefern Hinweise darauf, dass die direkte soziale Einbindung vor Ort, in einen belastbaren Freundeskreis, in Vereine und andere Gemeinschaften, sowie die Möglichkeit, sich für die eigenen Belange einzusetzen, mit stärkerem gesellschaftlichem Zusammenhalt einhergehen. Isolation, Einsamkeit, Benachteiligungsgefühle und eine gering ausgeprägte Selbstwirksamkeitserfahrung hingegen können Entfremdung und Radikalisierung zur Folge haben. Ein besonderes Augenmerk sollte daher auf die lokale soziale Infrastruktur gelegt werden, mit dem Ziel, flächendeckend ein vielfältiges und aktivierendes Teilhabeangebot zu ermöglichen.
Orientierung in der politischen Kommunikation geben: Auffällig ist die weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie und der Handlungsfähigkeit der Politik. Krisenzeiten sind immer auch Zeiten großer Ungewissheit. Jedoch muss Ungewissheit nicht zwangsläufig zu ausgeprägter Verunsicherung und Unzufriedenheit führen. Damit dies nicht geschieht, ist eine transparente und glaubwürdige politische Kommunikation notwendig, die in der Lage ist, Orientierung zu geben. Im gleichen Maße erhalten Extremismus, Verschwörungserzählungen und Desinformationen weniger Raum, ihre Wirkung zu entfalten.