Die Digitalisierung gilt seit einigen Jahren als zentrale politische Herausforderung. Regierungen sind dafür verantwortlich, den digitalen Wandel nicht nur zu beobachten, sondern auch seinen Verlauf und Rahmen gestaltend zu beeinflussen – sei es, um wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu stärken oder individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern. Ein politisch naheliegendes und im öffentlichen Diskurs sehr präsentes Instrument zur Bewältigung dieser Herkulesaufgabe ist die Gründung eines eigenständigen Digitalministeriums. Auf den ersten Blick spricht einiges für eine solche Forderung. Denn in der Praxis verteilen sich die digitalpolitisch relevanten Kompetenzen innerhalb der Bundesregierung auf diverse Ressorts, die diese Aufgabe auf ganz unterschiedliche Weise interpretieren. Das führt oft zu widersprüchlichen Zielsetzungen, inkonsistenten Prozessen und letztlich unbefriedigenden Ergebnissen. Zudem droht im schwierigen Miteinander der Ministerien auf nationaler Ebene die europäische Perspektive verloren zu gehen.
Könnte ein vollwertiges Digitalministerium diese Defizite überwinden? In jedem Fall lohnt es sich, vor einer solchen strukturellen Weichenstellung einen Blick auf die Inhalte politischer Digitalstrategien zu werfen. In den vergangenen Jahren haben einige Regierungen ihre digitalen Vorhaben über Ressortgrenzen und Zuständigkeiten hinweg auf Basis teilweise umfänglicher Konzepte koordiniert. Die neue Expertise für die Bertelsmann Stiftung bereitet erstmals systematisch auf, welche Ziele unterschiedliche EU-Staaten mit ihren „Digitalen Regierungsprogrammen“ verfolgen, welche Belange sie dabei in den Vordergrund stellen und inwieweit sich diese Vorhaben auf ihren Erfolg hin überprüfen lassen.
Joschua Helmer vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vier solcher Strategiekonzepte im Detail untersucht. Das Ergebnis soll dabei helfen, weitere Digitalstrategien auf nationaler und europäischer Ebene analytisch zugänglich und messbar zu machen. Aus den vorliegenden Befunden lassen sich bereits Ableitungen für die Politik treffen: Die Analyse zeigt, dass je nach institutionell-kulturellem Kontext unterschiedliche Varianten digitalpolitischer Steuerung sinnvoll sein können. Diese stellen wiederum unterschiedliche Anforderungen an die Koordination und Kompetenzen politischer Akteure. Erfolgskritisch sind dabei zum einen definierte Mechanismen, die konkrete Umsetzungsschritte befördern und eine übermäßig politisierte Auseinandersetzung vermeiden. Zum anderen ist eine flexible Implementierung der Digitalagenden notwendig, um auf dynamische Entwicklungen adäquat reagieren zu können. Nicht zuletzt ist für alle analysierten Digitalstrategien festzustellen, dass sie die europäische Ebene konzeptionell vernachlässigen – was kurzfristiges Handeln erleichtern mag, mittelfristig jedoch bestehende Probleme verstärken und Integrationsschwierigkeiten befördern dürfte.
All das spricht für eine klar koordinierte Digitalpolitik. Die Dauerhaftigkeit der Aufgabe sowie der Anspruch auf Konsistenz über Sektoren und Verwaltungsebenen hinweg lässt ein eigenständiges Digitalministerium zwar zweckmäßig erscheinen. Zugleich aber könnte eine solche Lösung der notwendigen Flexibilität in der Steuerung abträglich sein. Die wohl wichtigste Erkenntnis: Ein klarer politischer Wille ist für eine gelingende Digitalpolitik erfolgskritischer als ihre jeweilige institutionelle Verankerung.
Diese Analyse ist als Teil der einjährigen Exploration Digitalpolitik Gestalten – Towards a Fair Digital Society entstanden, in der die Bertelsmann Stiftung seit Sommer 2019 wesentliche Stellschrauben für eine teilhabeförderliche Digitalpolitik in Europa identifiziert hat. In der gleichen Reihe erschienen ist bereits eine Analyse über Digitale Governance (Ben Wagner und Carolina Ferro 2020), am 10.07. folgt eine dritte Analyse über den Wertewandel in der Digitalisierung (Annegret Bendiek und Jürgen Neyer 2020).