von CRAIG WILLY
Die Kritiker der ungarischen Regierung können auf viele Verstöße gegen europäische Werte und Regeln verweisen: Sie reichen vom Verbot der Aufklärung über LGBT-Themen an Schulen über die Beschneidung der Unabhängigkeit von Medien und Justiz bis zur Zweckentfremdung von EU-Geldern.
Den ungarische Regierungschef Viktor Orbán lässt die Kritik kalt. Seine Fidesz-Partei, die seit 2010 ununterbrochen an der Macht ist, errang bei den Wahlen im April zum vierten Mal die parlamentarische Mehrheit. Obwohl eine Niederlage dieses Mal möglich schien, konnte die rechtsnationale Partei ihre Macht mit 52,5 Prozent der Stimmen und etwas mehr als zwei Dritteln der Sitze im Parlament tatsächlich ausbauen.
Die Autoren des Länderberichts Ungarn 2021 der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung werfen der Fidesz-Regierung allerdings vor, dass sie unfaire Wahlbedingungen geschaffen habe. Die Opposition wurde kleingehalten, indem ihre Parteien weniger Finanzierung erhielten und der politische Einfluss der Regierung auf die Medien zunahm. Darüber hinaus wurden die Kommunen, von denen viele Bastionen der Opposition sind, geschwächt und die Zensur mit der Kriminalisierung von „Fake News“ und Panikmache verschärft.
Doch Orbán sieht die Legitimität seiner Regierung einmal mehr bestätigt. Bei einem Auftritt in der Wahlnacht prahlte er: „Wir haben einen so großen Sieg errungen, dass man es vom Mond aus sehen kann – und ganz bestimmt auch von Brüssel aus.“
Sein Sieg bringt die europäischen Institutionen in eine heikle Situation, nun da sie ernsthaft erwägen, Ungarn den Zugang zu EU-Mitteln zu verwehren. Ein neu geschaffener sogenannter Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ermöglicht es der EU, Ländern, die Gelder zweckentfremden, die Mittel zu entziehen. Bis vor Kurzem haben die Eurokraten von diesem Machtinstrument keinen Gebrauch gemacht, vielleicht um sich nicht dem Vorwurf der Einmischung in die ungarischen Wahlen auszusetzen.
Entscheiden muss die Europäische Kommission außerdem noch, ob sie Ungarns Wiederaufbauplan genehmigt und fast 17 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ auszahlt. Der SGI-Bericht warnt, die Post-COVID-Mittel der EU könnten dazu führen, dass sich „die Kumpane der Regierung bereichern“ und der finanzpolitische Handlungsspielraum künftiger Regierungen eingeschränkt werde.
Die EU-Institutionen sind nun zwischen zwei Notwendigkeiten gefangen: den Willen des ungarischen Volkes zu respektieren und die Interessen der gesamten Bevölkerung, das heißt aller 447 Millionen EU-Bürger, zu schützen.