Collage - Weltkarte mit hinterlegten Wörter zum Thema Geoökonomie

Der Geoeconomic Interconnectivity Index: Europas Verflechtungen im Zeitalter der Geopolitik

Die Nachbarschaft der EU befindet sich in tiefgreifendem Wandel, da die liberale Weltordnung zunehmend infrage gestellt wird und Ökonomie und Geopolitik enger miteinander verflochten sind. Der neue Geoeconomic Interconnectivity Index (GEOII), entwickelt von der Bertelsmann Stiftung, wiiw und ECIPE, macht diese Veränderungen sichtbar und liefert Impulse für die Debatte über die Nachbarschaftspolitik der EU. 

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Etienne Höra

Inhalt

Die EU bleibt die am stärksten vernetzte Akteurin, doch ihre Dominanz wird zunehmend herausgefordert – insbesondere durch China. Um ihre Position zu stärken, sollte die EU den Binnenmarkt, ihre regulatorische und finanzielle Schlagkraft gezielt einsetzen und dafür sorgen, dass ihre Nachbarn klare Vorteile in einer engeren Anbindung an Europa erkennen.

Ein neuer Blick auf Europas Nachbarschaft

Nach dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung groß, dass Recht, Märkte und Soft Power internationale Beziehungen prägen und wirtschaftliche Verflechtung den Frieden sichern würden. Die EU setzte auf Handel, Integration und die Angleichung von Standards – im Vertrauen darauf, dass Wohlstand und Stabilität sich gegenseitig verstärken.

Heute hat sich dieses Bild grundlegend gewandelt. Wirtschaftliche Verflechtungen dienen immer häufiger als Instrumente von Wettbewerb und Zwang. Der Zugang zu Märkten, Energie oder Technologie wird genutzt, um politische Zugeständnisse zu erzwingen. Die Grenze zwischen Wirtschaft und Macht verschwimmt.

Die Nachbarschaft Europas – von den Westbalkan-Staaten und der Östlichen Partnerschaft über die Türkei bis in den südlichen Mittelmeerraum – ist zu einem umkämpften Raum geworden, in dem EU, China, Russland und in geringerem Maße die USA Einfluss ausüben. Bislang fehlte jedoch ein systematisches Instrument, um diese Rivalitäten zu messen.

Der GEOII schließt diese Lücke. Er basiert auf 43 Indikatoren in den Bereichen Handel, Finanzen und Politik, deckt die Jahre 2010–2023 ab und bietet erstmals eine umfassende Analyse der Verflechtungen und ihrer Entwicklung.

Warum geoökonomische Verflechtung wichtig ist

Die zentrale Rolle der EU in ihrer Nachbarschaft ist nicht mehr selbstverständlich. China hat durch Infrastrukturprojekte, Investitionen und Handel seine Präsenz deutlich ausgeweitet. Russland bleibt trotz wirtschaftlicher Schwäche einflussreich durch Energie- und Agrarimporte, aber auch Zwang. Die USA haben nie eine tiefe ökonomische Rolle gespielt, und ihr Einfluss ist weiter zurückgegangen.

Viele Länder sehen sich nun mit konkurrierenden Angeboten und Druckmitteln konfrontiert. Der GEOII bietet eine faktenbasierte Grundlage, um Stärken, Schwächen und Handlungsbedarf der EU klar zu erkennen.

Zentrale Ergebnisse 2010–2023

1. Die EU bleibt der am stärksten vernetzte Akteur

In allen Nachbarschaftsregionen führt die EU weiterhin. Grundlage sind Handelsvolumina, Investitionen, finanzielle Integration und Abkommen. Erweiterungsprozesse und regulatorische Angleichung vertiefen diese Position zusätzlich.

2. Seit 2021 hat die EU in einigen Bereichen an Boden verloren

Die Daten zeigen einen Wendepunkt: Zwar bleibt die EU insgesamt dominant, doch ihre relative Stärke nimmt in Bereichen wie Hochtechnologie-Handel und Investitionen ab.

3. China holt auf

China hat seinen Einfluss systematisch ausgebaut und die EU in einigen Kategorien bereits überholt. Seine Strategie verbindet Infrastrukturfinanzierung, Technologietransfer und diplomatische Annäherung.

4. Russland übt weiterhin Druck aus

Trotz Sanktionen und ökonomischem Niedergang bleibt Russland ein relevanter Akteur. Energie- und Agrargüter werden gezielt als politische Druckmittel genutzt, besonders in Osteuropa.

5. Die Vereinigten Staaten spielen nur eine begrenzte Rolle

Die USA waren wirtschaftlich nie stark in der Region verankert. Seit 2017 hat ihre Vernetzung weiter abgenommen – zugunsten von EU, China und Russland.

Insgesamt zeigt sich Europa zwar weiterhin als führende, jedoch zunehmend herausgeforderte Akteurin. Rivalen sind präsent, aktiv und machen in einigen Bereichen rasche Fortschritte.

Was das für Europa bedeutet

Der GEOII verdeutlicht den Zielkonflikt zwischen dem Selbstverständnis der EU als Gemeinschaft von Regeln und Kooperation und den Realitäten der Geoökonomie, in der Verflechtungen auch Machtfragen sind.

Die Stärken der EU – Binnenmarkt, regulatorische Macht, Finanzkraft – sind beträchtlich. Doch die Schwächen sind ebenso sichtbar: In Hochtechnologie, Investitionen und strategischen Sektoren wird sie überholt. Russlands hybride Taktiken und Gewaltanwendung zeigen zudem die Grenzen europäischer Reaktionsfähigkeit.

Die Schlussfolgerung ist eindeutig: Verflechtung sollte strategisch genutzt werden. Die EU sollte ihr ökonomisches Gewicht entschlossener einsetzen, Partnerschaften vertiefen und sicherstellen, dass Nachbarn klare Vorteile einer engeren Bindung an Europa erfahren.

Den GEOII entdecken

Die vollständigen Ergebnisse, interaktive Grafiken und regionale Detailauswertungen finden sich unter geoii.eu.

So funktioniert der Index

Der GEOII basiert auf Standards der OECD und des Joint Research Centre der EU. Er misst 43 Indikatoren jährlich von 2010–2023, aufgeteilt in drei Teilindizes:

  • Handel: Importe, Exporte, Hochtechnologie, Energieflüsse
  • Finanzen: Direktinvestitionen, Bankpräsenz, Entwicklungsfinanzierung
  • Politik: Verträge, Abkommen, regulatorische Angleichung, Rüstungsexporte, politische Kontakte

Jede Region – Westbalkan, östliche Nachbarschaft, Türkei und südliches Mittelmeer – wird separat bewertet, die Ergebnisse werden aggregiert.

Der GEOII reduziert Beziehungen nicht auf eine Kennzahl, sondern zeigt die multidimensionale Realität von Verflechtungen. Damit lassen sich Muster erkennen, Wendepunkte bestimmen und die Auswirkungen von Ereignissen wie dem Krieg in der Ukraine, neuen Handelsabkommen oder Investitionsströmen nachvollziehen.

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