Herr Vehrkamp, die Ostdeutschen wenden sich von den etablierten Parteien Westdeutschlands ab. Ist die deutsche Einheit - zumindest an der Wahlurne - gescheitert?
Nein, unsere Wahlanalysen zeigen eher das Gegenteil: Stärker als die regionale Herkunft prägen soziale Milieus und Lebenslagen die Wahlentscheidungen. Die Wahlerfolge der Rechtspopulisten verlaufen auch in Deutschland entlang einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie zwischen Modernisierungsskeptikern und Modernisierungsbefürwortern.
Die modernisierungsskeptischen Milieus sehen sich sozial, ökonomisch und kulturell als Verlierer gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, fühlen sich von der etablierten Politik nicht mehr hinreichend repräsentiert, sind unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie, verlieren ihr Vertrauen in die demokratischen Institutionen und wenden sich von den etablierten Parteien ab. Und das ist nicht begrenzt auf die sozial benachteiligten Milieus, sondern verläuft diagonal durch alle sozialen Schichten der Gesellschaft.
Die Milieus der Modernisierungsbefürworter empfinden genau das als eine Gefährdung von Demokratie und gesellschaftlichem Fortschritt. Die sich daraus ergebende neue, das Land stark polarisierende Konfliktlinie verläuft aber nicht zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern diagonal durch die gesamte Gesellschaft. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche und damit auch gesamtdeutsche Konfliktlinie, und folgt in Ost- und Westdeutschland sehr ähnlichen soziokulturellen Mustern. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall sind die Deutschen sich also ähnlicher als viele glauben – auch an der Wahlurne!