Wahlkabinen

Gesamtdeutsche Konfliktlinie oder neue Ost-West-Spaltung?

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen scheinen zu belegen: Der Osten tickt anders! Und er wählt auch anders! Aber was steckt dahinter? Stimmt die Interpretation und Zuschreibung der unterschiedlichen Wahlergebnisse als neue Ost-West-Spaltung? Vier Fragen dazu an den Demokratieexperten der Bertelsmann Stiftung, Dr. Robert Vehrkamp.

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Herr Vehrkamp, die Ostdeutschen wenden sich von den etablierten Parteien Westdeutschlands ab. Ist die deutsche Einheit - zumindest an der Wahlurne - gescheitert?

Nein, unsere Wahlanalysen zeigen eher das Gegenteil: Stärker als die regionale Herkunft prägen soziale Milieus und Lebenslagen die Wahlentscheidungen. Die Wahlerfolge der Rechtspopulisten verlaufen auch in Deutschland entlang einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie zwischen Modernisierungsskeptikern und Modernisierungsbefürwortern.

Die modernisierungsskeptischen Milieus sehen sich sozial, ökonomisch und kulturell als Verlierer gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, fühlen sich von der etablierten Politik nicht mehr hinreichend repräsentiert, sind unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie, verlieren ihr Vertrauen in die demokratischen Institutionen und wenden sich von den etablierten Parteien ab. Und das ist nicht begrenzt auf die sozial benachteiligten Milieus, sondern verläuft diagonal durch alle sozialen Schichten der Gesellschaft.

Die Milieus der Modernisierungsbefürworter empfinden genau das als eine Gefährdung von Demokratie und gesellschaftlichem Fortschritt. Die sich daraus ergebende neue, das Land stark polarisierende Konfliktlinie verläuft aber nicht zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern diagonal durch die gesamte Gesellschaft. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche und damit auch gesamtdeutsche Konfliktlinie, und folgt in Ost- und Westdeutschland sehr ähnlichen soziokulturellen Mustern. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall sind die Deutschen sich also ähnlicher als viele glauben – auch an der Wahlurne!

In Westdeutschland zeigen dieselben Milieus eine starke oder schwache Neigung, die AfD zu wählen, wie in Ostdeutschland.

Wie lässt sich dann erklären, dass die rechtspopulistische AfD bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen in diesem Jahr mehr als doppelt so hohe Wahlergebnisse erzielt hat wie bei der Bundestagswahl 2017 und vielen Landtagswahlen in Westdeutschland?

Das stimmt, aber dennoch ist die AfD keine "Lega Ost", sondern ein gesamtdeutsches Phänomen. Das zeigt unsere aktuelle Analyse sehr deutlich: Viel größer als die regionalen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, sind die Unterschiede zwischen den sozialen Milieus. Während die Wahlabsichten zugunsten der AfD in Ostdeutschland mit 22 Prozent um etwas weniger als die Hälfte über den AfD-Wahlabsichten in Westdeutschland (13,4 Prozent) liegen, entscheiden sich Wähler aus dem sozial Prekären Milieu in Ost- und Westdeutschland etwa viermal so häufig für die AfD wie Wähler aus dem Milieu der Liberal-Intellektuellen.

In diesem modernisierungsbefürwortenden Milieu der Liberal-Intellektuellen wählen in Ost- und Westdeutschland jeweils nur etwa halb so viele Wähler die AfD wie im Durchschnitt aller Wähler. Im modernisierungsskeptischen Milieu der sozial Prekären sind es dagegen mehr als doppelt so viele. Zwar zeigen sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland auch in der Milieuanalyse der Wahlergebnisse. Die Unterschiede zwischen den Milieus sind jedoch um ein Vielfaches stärker ausgeprägt als zwischen Ost und West.

Die AfD ist also eher eine gesamtdeutsche Milieupartei der Modernisierungsskeptiker?

Ja, so kann man das formulieren! Etwa zwei Drittel ihrer Wähler gehören einem der eher modernisierungsskeptischen sozialen Milieus an. Wie in Westdeutschland, hat sie damit auch in Ostdeutschland ein parteipolitisches Alleinstellungsmerkmal: Als einzige Partei wird sie weit mehrheitlich von Menschen aus den modernisierungsskeptischen Milieus unterhalb der diagonal durch die sozialen Milieus verlaufenden gesellschaftlichen Konfliktlinie gewählt.

Von den eher modernisierungsbefürwortenden Milieus oberhalb der diagonalen Konfliktlinie wird die AfD dagegen nur weit unterdurchschnittlich gewählt. Der modernisierungsbefürwortende Gegenpol der AfD sind dagegen die GRÜNEN, deren Wähler zu mehr als zwei Drittel (68 Prozent) einem der Milieus oberhalb der Konfliktlinie angehören. Das gilt abgeschwächt auch für die Wähler der SPD, der LINKEN und der FDP. Lediglich die Wähler der CDU/CSU verteilen sich in Ostdeutschland genau hälftig auf beide Seiten der Konfliktlinie.

Und welche Rolle spielen dabei Migration, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus?

Eine jedenfalls sehr große Rolle! Die modernisierungsskeptischen Milieus sind häufig auch überdurchschnittlich anfällig für Migrationskritik und Fremdenfeindlichkeit, bis hin zu Rassismus und Rechtsextremismus. Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus lassen sich ja auch als Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse interpretieren. Anti-Internationalismus, Globalisierungskritik und autoritärer Traditionalismus gehen häufig Hand in Hand mit nationalistischer Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus.

Solche Einstellungen sind aber nicht begrenzt auf die modernisierungsskeptischen Milieus, sondern streuen in der ganzen Breite der Gesellschaft. Das macht ja auch die AfD so schwer fassbar. Ihre Wahlerfolge sind nicht monokausal zu erklären, weder durch den Milieuansatz, noch durch Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus. Es mischen sich in der AfD ganz unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen und Phänomene, die sich zum Teil überlappen, ergänzen und verstärken, zum Teil aber auch ziemlich unvereinbar nebeneinanderstehen. Da sehe ich noch einigen Forschungsbedarf, um diese Zusammenhänge noch besser zu verstehen.