Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland verlangsamt sich

Geringerer Zuwachs an Ganztagsplätzen in Schulen seit 2009 / 2,8 Millionen Ganztagsplätze fehlen / Bertelsmann Stiftung spricht sich für Rechtsanspruch aus und fordert gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern

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Dr. Dirk Zorn
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Der Ausbau der Ganztagsschule kommt in Deutschland nur langsam voran: Mit Hilfe des vier Milliarden schweren Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" wurden von 2003 bis 2009 pro Jahr rund 175.000 Ganztagsplätze geschaffen. Seit das Bundesprogramm ausgelaufen ist, kommen im Schnitt jährlich nur noch 104.000 Ganztagsschüler hinzu. Das belegt eine Studie des Essener Bildungsforschers Prof. Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Derzeit geht jeder dritte Schüler (32,3 Prozent) ganztags zur Schule. Die Nachfrage ist allerdings deutlich höher: Bundesweit wünschen sich 70 Prozent aller Eltern einen Ganztagsplatz für ihr Kind (TNS Emnid/ JAKO-O 2012).

"Der Ausbau der Ganztagsschulen muss beschleunigt werden, weil sie eine bessere individuelle Förderung aller Kinder und damit mehr Chancengerechtigkeit ermöglichen"

Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung

Die Lücke zwischen derzeitigem Ganztagsangebot und Elternwunsch beträgt damit rund 2,8 Millionen Ganztagsplätze. "Der Ausbau der Ganztagsschulen muss beschleunigt werden, weil sie eine bessere individuelle Förderung aller Kinder und damit mehr Chancengerechtigkeit ermöglichen", sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. "Mit einem schnelleren Ausbau des Ganztagsunterrichts wäre außerdem die aktuelle Debatte um das acht- oder neunjährige Gymnasium überflüssig: Wenn die Gymnasien den Unterricht mit sich abwechselnden Lern-, Übungs- und Entspannungsphasen sinnvoll über den ganzen Tag verteilen, kann der Weg zum Abitur ohne Nachteile für die Schüler auch in acht Jahren bewältigt werden."

Die Mehrzahl der Ganztagsschüler nutzt offene Angebote

Große Unterschiede zwischen den Bundesländern

Zwischen den Bundesländern bestehen beim Ganztagsausbau – ohne Berücksichtigung der Hortbetreuung – deutliche Unterschiede. Im vergangenen Schuljahr gingen in Sachsen 79,1 Prozent, in Hamburg 61,7 Prozent der Schüler ganztags zur Schule, in Baden-Württemberg hingegen waren es 18,9, in Bayern sogar nur 12,4 Prozent. Dräger bekräftigte deshalb den Vorschlag der Bertelsmann Stiftung, jedem Schüler einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer Ganztagsschule einzuräumen: "Ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz ist der entscheidende Hebel für den bedarfsorientierten Ausbau in ganz Deutschland", so Dräger. Bei der jetzigen Ausbaugeschwindigkeit werde es noch mehr als 20 Jahre dauern, bis der Elternwunsch nach Ganztagsunterricht erfüllt werden könne.

Nicht nur beim Platzangebot, sondern auch in der Organisation des Ganztags zeigen sich große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Bundesweit nutzt die Mehrzahl der Ganztagsschüler offene Angebote, in denen nicht die gesamte Klasse über Mittag in der Schule bleibt. Gebundene Ganztagsangebote, in denen der Nachmittagsunterricht für alle Schüler der jeweiligen Klasse verbindlich ist, nutzen lediglich 14,4 Prozent aller Schüler. Die gebundene Ganztagsschule ist diejenige Schulform, der Wissenschaftler besonders große Möglichkeiten beim sozialen und kognitiven Lernen zuschreiben.