Die Corona-Pandemie ist ein Jahrhundertereignis, das nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt herausfordert. Wie unsere aktuelle Studie in Zusammenarbeit mit dem infas Institut zeigt, erweist sich der Zusammenhalt im Krisenjahr 2020 zwar insgesamt als relativ robust. Aber Personen unter 30 Jahren und vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen und niedriger formaler Bildung bewerten die Zukunftsaussichten kritischer als etwa die Mittelschicht. Hier droht Corona bestehende Spannungen weiter zu verschärfen.
Zusammenhalt in Zeiten von Corona: Die stabile Basis droht zu bröckeln
Der gesellschaftliche Zusammenhalt hat sich im Pandemiejahr 2020 als weitgehend robust erwiesen. Aber die Zeichen für eine Gefährdung nehmen zu. Insbesondere jüngere Menschen und Personen in prekären Lebenslagen machen sich Sorgen und erleben weniger Mitmenschlichkeit. Hier gilt es gegenzusteuern.
Im ersten Halbjahr nimmt der Zusammenhalt leicht zu
Für die Panelstudie wurden 611 Personen im Laufe des Jahres 2020 insgesamt dreimal befragt: im Februar und März, im Mai und Juni und im Dezember. Dabei zeigte sich im Jahresverlauf, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt zunächst bis zum Sommer stabil blieb. Zur Jahresmitte war die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Miteinanders sogar positiver als zu Jahresbeginn. Diese Entwicklung wurde bereits ausführlich in einer vorhergehenden Studie aus dem August 2020 analysiert. Dieser Trend kehrt sich aber im zweiten Halbjahr um. Mit dem zweiten Lockdown zum Jahresende sank die Bewertung dann wieder auf das Level vom Jahresanfang zurück.
Im zweiten Halbjahr wachsen die Zukunftssorgen und das Vertrauen schwindet
So ist der Mittelwert für das Vertrauen in die Mitmenschen, angegeben auf einer Skala von 0 bis 10, zwischen Februar/März und Mai/Juni zunächst von 5,9 auf 6,2 gestiegen. Bei der Befragung im Dezember ist dieser Positiveffekt aber wieder verschwunden und der Mittelwert sinkt auf 5,8 – also leicht unter das Ausgangsniveau. Hierbei blicken gerade Menschen in sozioökonomisch schwieriger Lage gegen Ende des Jahres deutlich skeptischer auf Zusammenhalt und Zukunft als andere gesellschaftliche Gruppen. So hat im Dezember 2020 eine Mehrheit von 56 Prozent der Befragten mit prekärem sozioökonomischem Status große Sorgen um ihre Zukunft. 18 Prozentpunkte mehr als noch im Sommer. Aber auch die Mittelschicht ist beunruhigt: Hier äußern im Dezember 41 Prozent große Zukunftssorgen. Das sind 22 Prozentpunkte mehr als im Mai/Juni. Am geringsten sind die Ängste nach wie vor in der Gruppe mit hohem sozioökonomischem Status. Von ihnen sind Ende des Jahres nur 16 Prozent sehr besorgt.
Junge Generation besonders belastet
Besondere Belastungen birgt die Pandemie auch für die unter 30-Jährigen: Ganze zwei Drittel der Befragten unter 30 Jahren äußern große Zukunftssorgen und 71 Prozent fühlen sich einsam. „Interessant und spannend ist aber, dass in dieser Altersgruppe zugleich die Unterstützung der Corona-Maßnahmen am größten ist“, erklärt Stephan Vopel, Leiter des Programms Lebendige Werte der Bertelsmann Stiftung. Dieser Befund bestätigt auch die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten Auswertung der Umfrage „Jugend und Corona“, wonach Junge Menschen in der Corona-Zeit über psychische Probleme, Vereinsamung und Zukunftsängste klagen.
Vertrauen in den Zusammenhalt hoch
Das Vertrauen in den Zusammenhalt ist in Deutschland insgesamt groß. Das bekräftigt auch die aktuelle Studie. So haben die Befragten am Ende des Pandemiejahres 2020 weniger stark den Eindruck, der Zusammenhalt sei gefährdet. Vergleicht man die Antworten von der ersten mit der dritten Erhebung, so ist bei 42 Prozent die Gefährdungswahrnehmung zurückgegangen, bei 34 Prozent ist sie gleichgeblieben und nur 23 Prozent sehen den Zusammenhalt im Dezember als gefährdeter an als am Anfang der Pandemie. Am wenigsten teilen diese optimistische Einschätzung die Menschen in prekären Lebenslagen.
Gefahr für die Demokratie
Gesellschaftliche Spaltungstendenzen werden auch beim Blick auf ein anderes Thema sichtbar: bei der Zufriedenheit mit der Demokratie. Im Durchschnitt aller Bevölkerungsgruppen befand sich die Zufriedenheit mit dem politischen System nach einem Zwischenhoch im Sommer zum Jahresende 2020 wieder auf dem Niveau von Februar/März. "Aber auch hier lohnt ein differenzierter Blick“, betont Unzicker. Denn während die Zufriedenheit mit der Demokratie bei höher Gebildeten insgesamt stieg, sank sie bei Personen mit geringer Bildung. Hier ist Unzicker besorgt: "Wir sehen seit Anfang 2021 und der Diskussion über fehlende Impfstoffe und Testkapazitäten stark steigende Vorbehalte gegen die Politik. Eine zunehmende Politikverdrossenheit könnte bereits marginalisierte Gruppen weiter an die politischen Ränder drängen.“
Greifbare Veränderungen für starken Zusammenhalt in der Zukunft
In den ersten Monaten des Kampfes gegen Corona haben sich Solidaritätsmechanismen und politische Führung in den Augen einer großen Mehrheit der Befragten bewährt, aber im Laufe der Pandemie wird die Sichtweise gerade von Menschen in prekärer Lage negativer. „Wir müssen da gesellschaftlich gegensteuern und den Gruppen helfen, die durch die Krise besonders tief getroffen wurden“, fordert Unzicker. Das verlange nicht nur Empathie und symbolische Anerkennung, sondern greifbare Veränderungen wie gerechte Löhne, staatliche Ausbildungsgarantien und Bildungsinvestitionen, mehr politische Mitsprache für junge Menschen und einen beherzten Kampf gegen Kinderarmut.
Die Studie „Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten der Pandemie“ ist Teil des Projekts "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt", mit dem die Bertelsmann Stiftung seit 2012 die soziale Kohäsion auf unterschiedlichen Ebenen untersucht. Im vergangenen Jahr erschien die Studie "Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2020", die sich sowohl auf einen längerfristigen Zeitvergleich zwischen 2017 und 2020 konzentrierte als auch die ersten Monate der Corona-Pandemie bis zum Frühsommer abdeckte. Die nun vorliegende Studie baut darauf auf und ergänzt diese Vorgängeruntersuchung. Sie ist als Längsschnitt mit drei Befragungen von identischen Personen im Jahresverlauf angelegt. Hierfür wurden vom infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft 611 Personen ein drittes Mal befragt, die bereits im Februar und März sowie im Mai und Juni an den Umfragen teilgenommen hatten. Eine solche Panelbefragung im Längsschnitt dient dazu, die Antworten direkt miteinander vergleichen zu können und Veränderungen im Antwortverhalten im Jahresverlauf zu interpretieren. Dies ermöglicht insbesondere auch den Vergleich von Gruppen in ihrer Entwicklung und lässt Schlüsse auf die möglichen Ursachen eines veränderten Antwortverhaltens zu. Im Gegensatz zu einer repräsentativen Querschnittserhebung sind die Ergebnisse in diesem Fall allerdings nicht prozentual hochrechenbar auf die Gesamtbevölkerung. Repräsentative Werte waren nur für die ersten beiden der drei durchgeführten Erhebungen möglich. Diese Ergebnisse wurden bereits in der vorangehenden Untersuchung publiziert. Weitere Informationen zur Methodik finden sich hier im vollständigen Methodenbericht zum Download.
Die Autoren der Studie sind Dr. Kai Unzicker (Bertelsmann Stiftung) sowie Robert Follmer, Thorsten Brand und Jana Hölscher (infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft).