Weitere Lockdowns vermeiden und das komplexe Problem der Corona-Pandemie auf einfache Weise lösen – das war der Wunsch zahlreicher Länder, die mit rasanter Geschwindigkeit algorithmische Systeme einführten. Welche Technologien, wo und auf welche Weise eingesetzt werden, darüber gibt die aktuelle Publikation Automated Decision-Making Systems in the COVID-19 Pandemic: A European Perspective einen Überblick. Aus 16 europäischen Ländern haben Wissenschaftler:innen und Journalist:innen Anwendungsfälle zusammengetragen. Eine Einordnung der Beispiele vergleicht verschiedene europäische Ansätze und wirft auch einen Blick auf die außereuropäische Umsetzung technologischer Möglichkeiten. Der Vergleich zeigt, dass zwischen den europäischen Ländern, aber vor allem in und außerhalb von Europa, große Unterschiede im Umgang mit dem Spannungsverhältnis zwischen technologischem Überwachungspotenzial und der Wahrung von Menschenrechten bestehen.
Vor allem in Asien und im Nahen Osten werden die Möglichkeiten zur Überwachung durch technologische Anwendungen in vollem Maße ausgenutzt. Apps zur Überprüfung der Quarantäne, Tracking-Armbänder und Gesichtserkennung zur Durchsetzung der Maßnahmen sind dort weiterverbreitet und für Bürger:innen oftmals verpflichtend. Doch auch in Europa lassen sich invasive technologische Lösungen und Ansätze für Überwachung finden: Polens App fordert regelmäßig Standortdaten und Fotos der Nutzer:innen an, um Quarantänemaßnahmen zu überprüfen. Seit April ist der Download der App für alle Bürger:innen obligatorisch. Slowenien verabschiedete Anti-Corona-Gesetze, die der Polizei mehr Macht zur Überwachung der Bevölkerung einräumen.
EU-Institutionen und die WHO fordern hingegen die Vereinbarkeit von Technologien und Menschenrechten in Form von Kriterien, wie Freiwilligkeit, Diskriminierungsfreiheit und Einhaltung von Datenschutzanforderungen. Viele europäische Länder versuchten diese Kriterien zu integrieren und setzen auf dezentrale Ansätze (z.B. Schweiz, Finnland, Estland) sowie Open Source Technologien (z.B. Deutschland).
Trotz Warnung der WHO, den Einsatz technologischer Lösungen nicht zu übereilen, wurden sie jedoch in zahlreichen Ländern eingesetzt, bevor der Nutzen von Anwendungen wie Contact Tracing Apps überhaupt belegt und ihre Effektivität in der Bekämpfung der Pandemie bestimmt ist. Der Report zeigt, dass es entscheidend ist, technologische Lösungen nicht als schnelles Allheilmittel zu sehen. Letztlich können sie nur ein Baustein in einer größeren Gesamtlösung auf dem Weg in eine neue Normalität sein.
Die Publikation ist eine Sonderausgabe des Automating Society Reports 2020, der einen Überblick über Anwendungsbeispiele, Debatten und regulatorische Entscheidungen rund um europäische ADM-Systeme in unterschiedlichen Anwendungsfelder gibt. Der Report erscheint im Oktober.