Menschen in Stadt in Asien
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, Studie: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Asien. Ursprünge, Formen, Dynamiken

Gesellschaften mit starkem Zusammenhalt gelten in Krisenzeiten als resilienter – das wird gerade in der aktuellen Corona-Pandemie intensiv diskutiert. Eine neue Studie zeigt, was asiatische Länder gesellschaftlich zusammenhält und welche Konfliktlinien den Zusammenhalt gefährden.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eine zentrale Bedingung wirtschaftlicher Entwicklung und ein wichtiger Faktor für die Fähigkeit von Gesellschaften, innere Spannungen auszuhalten und Konflikte in friedvoller Weise zu lösen. Das gilt in besonderem Maße für die sich dynamisch entwickelnden Länder Asiens. Wo die soziale Kohäsion schwach ist, ist der Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten oft destruktiv und führt nicht selten zu Gewalt. Gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen COVID-19-Pandemie ist sozialer Zusammenhalt essenziell für gesellschaftliche Resilienz. Die Sicherung und/oder Stärkung der sozialen Bindekräfte ist deshalb eine wichtige Zielgröße politischen Handelns.

In einer neuen Publikation präsentiert Aurel Croissant die Ergebnisse einer von der Bertelsmann Stiftung initiierten Studie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in acht asiatischen Ländern: China, Singapur, Südkorea, Bangladesch, Indien, Sri Lanka, Indonesien und Myanmar. Er geht darüber hinaus auch auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie ein und präsentiert einige – wenn auch vorsichtige und vorläufige - Überlegungen zur Rolle des sozialen Zusammenhalts für die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften und die Handlungsfähigkeit von Staaten in der aktuellen Corona-Pandemie.

Konzeptionell baut die Untersuchung auf dem Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt für Asien auf, einem Forschungsprojekt der Bertelsmann Stiftung, das detaillierte länderübergreifende Analysen des sozialen Zusammenhalts in Asien erstellt hat. Die vergleichenden Länderstudien ermöglichen nun neue Einsichten zu den historischen Ursprüngen, aktuellen Dynamiken und zukünftigen Herausforderungen des sozialen Zusammenhalts in den acht asiatischen Ländern. Die Ergebnisse können in fünf Punkten zusammengefasst werden. 

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Asien: Schlüsselergebnisse

Erstens zeigt die Studie, dass es in Asien kein einheitliches und allgemein geteiltes Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenhalt gibt. Westliche Konzepte des sozialen Zusammenhalts wurden in Wissenschaft und Medien bislang nur zurückhaltend aufgegriffen. Die existierenden Übersetzungen in lokalen Sprachen sind mehrdeutig und nicht inhaltsgleich. So ist beispielsweise „soziale Harmonie“ in erster Linie ein politischer Begriff, in dem sich das Bestreben der chinesischen Regierung ausdrückt, Konflikte zwischen sozialen Gruppen, zwischen staatlichen Akteuren sowie zwischen Gesellschaft und der Regierung zu lösen.

Zweitens unterstreichen die Länderanalysen die Notwendigkeit einer genauen Kontextualisierung. Indien etwa besitzt einen relativ schwachen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Soziale Fragmentierung und Demokratisierung sind dort aber keine sich wechselseitig ausschließende Prozesse, sondern bilden ein dynamisches Gleichgewicht. So ist Demokratie in Indien gerade aufgrund der starken Fragmentierung und der zentrifugalen Tendenzen in der Gesellschaft zentral, um gesellschaftliche Stabilität zu gewährleisten. Darin unterscheidet sich das Land von anderen Staaten Südasiens mit geringem sozialem Zusammenhalt. Die Analysen zu China und Singapur verweisen hingegen auf das bislang recht erfolgreiche Kohäsionsmanagement der autoritären Regierungen in beiden Staaten.

Drittens beruht der im Asienradar aufgezeigte negative Zusammenhang von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt in Asien vor allem auf der vergleichsweise geringen Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den Ergebnissen des demokratischen Prozesses sowie einem schwachen Vertrauen in die politischen Institutionen in demokratischen Systemen. Ferner verdeutlichen die Fallstudien den Einfluss ökonomischer Ungleichheiten zwischen Individuen und „horizontaler“ Ungleichheiten zwischen Gruppen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft. Dabei ist jedoch zwischen „objektiv“ gemessenen und subjektiv wahrgenommenen Ungleichheits- und Ungerechtigkeitssituationen zu unterscheiden, wie insbesondere das Beispiel Südkoreas zeigt.

Viertens spricht die Studie problematische Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Asien an, die bislang zu wenig Beachtung gefunden haben. So ist soziale Kohäsion einerseits der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, soziale Kooperationsdilemma überwinden hilft und gesellschaftliche Stabilität fördert. Er kann aber auch eine Quelle autoritärer Resilienz darstellen, beispielsweise in China und Singapur. Die Fallstudien zu Sri Lanka und Myanmar legen darüber hinaus nahe, dass sozialer Zusammenhalt in Gesellschaften, die entlang von Ethnizität, Religion oder anderen Identitätszuschreibungen tief gespalten sind, nicht automatisch ein Zeichen für die Integration einer Gesellschaft als Ganzes ist, sondern die Überintegration ihrer Teile ausdrücken kann.

Fünftens, obwohl die hier skizzierte Studie vor dem Beginn der COVID-19-Pandemie abgeschlossen wurde, besitzen ihre Ergebnisse dennoch eine besondere Relevanz im Hinblick auf die Frage, wie gut einzelne Gesellschaften in Asien mit den soziopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der Krise fertig werden. Diese sind in Asien ebenso verheerend wie andernorts. Gerade in den wirtschaftlich weniger entwickelten Gesellschaften Süd- und Südostasiens, die auch ein geringeres Maß an Zusammenhalt aufweisen, drohen die Fortschrittserfolge der letzten Jahre etwa in der Armutsbekämpfung gleichsam über Nacht zunichte gemacht zu werden. In jedem Fall verursacht die COVID-19-Krise tiefe Verwerfungen in den betroffenen Gesellschaften.

Schon jetzt ist allerdings zu erkennen: Kohäsivere Gesellschaften zeigen eine schnellere Reaktionszeit von Regierungen und eine höhere Bereitschaft ihrer Bürgerinnen und Bürger, Eingriffe in die individuelle Freiheitssphäre zugunsten des Gemeinwohls zu akzeptieren. Gerade im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit von Staaten und die Resilienz von Gesellschaften gegenüber den sozialen, politischen, ökonomischen und psychologischen Folgen der Corona-Krise ist sozialer Zusammenhalt ein wichtiger Faktor - und das nicht nur in Asien.

Publikation

Studie: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Asien

In dieser Publikation präsentiert Aurel Croissant, Professor für Politikwissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft der Universität ...