Mini publics, Bürgerräte und Bürgerpanels mit zufällig ausgewählten Bürger:innen breiten sich aus in Europa. Bessere politische Entscheidungen, mehr Vertrauen in demokratische Prozesse - immer mehr Politiker:innen schätzen die Vorteile dieser Formen der deliberativen Beteiligung und etablieren einen permanenten Mechanismus im repräsentativen System.
Das „Ostbelgien Modell“ gehört zu den weitreichendsten Ansätzen der Verknüpfung deliberativer Beteiligungsformen mit Parlament und Regierung. Wie permanente Bürgerräte und Parlaments- und Regierungsarbeit zusammen funktionieren und welche Herausforderungen damit verbunden sind, das zeigt dieser shortcut.
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„Ein belgisches Experiment, das Aristoteles gefallen hätte.“
So beschrieb die Wochenzeitung The Economist das Ostbelgien-Modell der Bürgerbeteiligung (OBM). Das OBM institutionalisiert die Anwendung deliberativer demokratischer Methoden. Bürger:innen werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und in die Politikgestaltung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (auch „Ostbelgien“ genannt) einbezogen. Obwohl die Region mit weniger als 80.000 Einwohner:innen sehr klein ist, verfügt sie bei den ihr übertragenen Zuständigkeiten über eine autonome Gesetzgebungsbefugnis.
Das OBM kombiniert einen ständigen Bürgerrat mit Bürgerversammlungen, die ein bis drei Mal pro Jahr stattfinden. Der Bürgerrat entscheidet, mit welchen Themen sich die Bürgerversammlungen befassen sollen. Die Bürgerversammlung berät das Thema und legt dem Parlament ihre Empfehlungen vor. Der Bürgerrat überprüft den Folgeprozess zur Implementierung der Empfehlungen. Beide Organe setzen sich aus Bürger:innen zusammen, die durch das Losverfahren ausgewählt werden. Dieses Modell ist besonders weitreichend und verbindet traditionelle repräsentative demokratische Institutionen mit deliberativen Versammlungen von Bürger:innen. Das Modell weist drei Besonderheiten auf:
- Das Programm und die Auswahl der Themen wird vollständig in die Hände der Bürger:innen gelegt.
- Aufgabe des Bürgerrats ist es, die politische Umsetzung der Empfehlungen zu überprüfen.
- Ostbelgien ist die weltweit erste Region mit Gesetzgebungsbefugnis, in der ein ständiger Bürgerrat sowie jährliche Bürgerversammlungen gesetzlich vorgeschrieben sind.
Was bisher geschah
Bislang wurden vom Bürgerrat drei Bürgerversammlungen zu folgenden Themen initiiert: Verbesserung der Bedingungen in der Gesundheitsversorgung, Inklusive Bildung und Erschwinglicher Wohnraum. Um zu zeigen, wie das Modell in der Praxis funktioniert, wird hier der Zyklus der ersten Versammlung wiedergegeben.
Die erste Sitzung des Bürgerrats fand im September 2019 statt – ein halbes Jahr nachdem der Gesetzentwurf zur Einrichtung des OBM verabschiedet wurde. Nach dem ersten Aufruf wurden fast dreißig Themen-Vorschläge von den Bürger:innen eingereicht. Der Bürgerrat beschloss als erstes Thema für die Bürgerversammlung: „Pflege ist für uns alle wichtig. Wie können wir die Bedingungen im Gesundheitswesen für Personal und Patient:innen verbessern?“.
Aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2020 dauerte die erste Bürgerversammlung sechs Monate und somit länger als erwartet. Die Bürger:innen beschäftigten sich mit vier verschiedenen Aspekten der Pflegearbeit. Nach Abschluss ihrer Beratungen schlugen sie dem Parlament 14 Empfehlungen vor.
Die Empfehlungen betrafen Möglichkeiten, mehr junge Menschen für eine Ausbildung im Gesundheitswesen zu begeistern. Außerdem sollten neue IT-Lösungen eingesetzt werden, um den hohen Verwaltungsaufwand für Pflegekräfte zu verringern. Zur Verbesserung des Qualitätsmanagements in Pflegeheimen wurden interne und externe Bewertungen empfohlen.
Die Präsentation der Empfehlungen im Parlament fand Anfang Oktober 2020 statt. Mitte Dezember wurde eine Stellungnahme des Parlaments und der Regierung zu den Empfehlungen vorgestellt und erörtert. Das 30-seitige Dokument dient als Leitfaden für die Nachbereitung. Der Bürgerrat setzt sich in seinen monatlichen Sitzungen mit dem Parlament in Verbindung, um zu kontrollieren, wie die Umsetzung voranschreitet. Von der Festlegung des Themas für die Bürgerversammlung bis zur Überwachung der Nachbereitung kann die Beteiligung der Bürger:innen an einem einzigen abgeschlossenen Prozess insgesamt fast zwei Jahre in Anspruch nehmen. Da mehrere Prozesse gleichzeitig ablaufen, fungiert der Bürgerrat als Koordinierungsstelle zur Überwachung all der verschiedenen Schritte.
Erfolge
- Einstimmige Unterstützung durch alle Parteien im Regionalparlament und damit hohe Legitimität.
- Große Medienaufmerksamkeit in ganz Europa, z. B. Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, NRC Handelsblad, The Economist und El Pais.
- Der Bürgerrat erhält viele Themenvorschläge. Der Prozess wird als sinnvoller Weg zu einer Politikgestaltung angesehen, die sich an den Bürger:innen orientiert.
- Viele Bürger:innen möchten sich beteiligen. Mehr als 9 % der Eingeladenen sind bereit, sich zu beteiligen. Im Vergleich zu anderen Bürgerversammlungen ist das eine sehr hohe Zahl.
Herausforderungen
- Es sind umfangreiche Verwaltungskapazitäten und Ressourcen erforderlich. Dazu gehört auch zu prüfen, ob die Themen den regionalen Zuständigkeiten entsprechen sowie die Ausarbeitung von Antworten auf jede Empfehlung.
- Aufmerksamkeit der lokalen Medien für den Prozess gewinnen. Eine Umfrage im April 2020 ergab, dass nur etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Region von der Existenz des OBM wusste. Die regionalen Medien berichten nur wenig über den Prozess.
- Die traditionellen Akteur:innen der Zivilgesellschaft mit dem Prozess verbinden. Da sie in vielen Politikbereichen eine wichtige Rolle spielen, würde eine stärkere Verbindung die Legitimität des Prozesses erhöhen.
- Hohe Beteiligungsquoten beibehalten. Damit das OBM funktionieren kann, müssen genügend Bürger:innen an den Versammlungen teilnehmen. Wenn die Rücklaufquoten sinken, kann die Diversität der teilnehmenden Bürger:innen nicht mehr gewährleistet werden.
Wegbereiter für Innovation und Institutionalisierung deliberativer Bürgerbeteiligung
Ostbelgien gilt eindeutig als Wegbereiter für innovative Bürgerbeteiligung in Europa. Inzwischen ist das Ostbelgien Modell allen ein Begriff, die sich für deliberative Methoden interessieren. Das ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Erstens ermöglichte die geringe Größe der Region schon immer enge Verbindungen zwischen politischer Vertretung, Bürger:innen und Zivilgesellschaft. Zweitens bestand im letzten Jahrzehnt eine große Bereitschaft, mit Bürgerbeteiligung zu experimentieren.
Eines dieser Experimente war die Bürgerversammlung zur Kinderbetreuung im Jahr 2017. Die Versammlung wurde von den meisten beteiligten Politiker:innen als Erfolg gewertet. Damit war der Weg geebnet, diese Methode in einer stärker strukturierten Form anzuwenden. Schließlich hatte die Region 2018 zwei Politiker:innen an der Spitze der Legislative und der Exekutive, die ein kühnes Experiment zur Institutionalisierung der deliberativen Demokratie vorantrieben.
Anhand des OBM wird auch deutlich: Eine Institutionalisierung der deliberativen Methoden führt dazu, dass diese zu einem Instrument der politischen Sozialisation werden. Die Mitglieder der Versammlungen erfahren aus nächster Nähe, wie Politik gemacht wird und welche Rolle die Institutionen spielen. Die Forschung zeigt: Personen, die an solchen Prozessen beteiligt sind, haben im Allgemeinen mehr Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen, weil sie diese besser verstehen. Untersuchungen zeigen auch, dass sich die Beteiligten anschließend oft in der Zivilgesellschaft und manchmal sogar in der Parteipolitik engagieren.
Nicht zuletzt ist das OBM für andere Staaten, die deliberative Methoden institutionalisieren wollen, ein hervorragendes politisches Lerninstrument. Jetzt gibt es einen Ort, an dem man beobachten kann, was bereits funktioniert und was noch verbessert werden muss. Heute gibt es immer mehr Initiativen, die diesem Beispiel folgen. Beispielsweise hat der Stadtrat in Paris ein ähnliches Verfahren eingeführt. Zusätzlich zum Ostbelgien-Modell kann das Paris Modell auch für die Evaluierung der bisherigen Politik und für die Themenfindung für den Bürgerhaushalt eingesetzt werden.
Ostbelgien ist nicht das einzige Beispiel in Belgien
Auch das Brüsseler Regionalparlament beschloss, deliberative Methoden für seine politische Arbeit zu institutionalisieren. Das Modell zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Abgeordnete und Bürger:innen in gemischten beratenden Ausschüssen zusammenarbeiten. Die Ausschüsse setzen sich aus jeweils 15 Abgeordneten und 45 Bürger:innen zusammen. Nachdem sie über ein Thema informiert wurden und darüber deliberiert haben, schlagen sie dem Parlament Empfehlungen vor. Zu den Stärken dieses speziellen Modells gehört, dass die Beteiligung von Politiker:innen an der Ausarbeitung von Empfehlungen die Wahrscheinlichkeit politischer Folgemaßnahmen erhöht, da eine politische Mitverantwortung gegeben ist. Die Festlegung der Themen und die Nachverfolgung der Empfehlungen erfolgen durch das Parlament selbst.
Neue Entwicklungen
Zwar gibt es nur wenige Beispiele für die Institutionalisierung deliberativer Demokratie, doch wird sie zunehmend als zukunftsweisend für demokratische Innovation angesehen. In Deutschland hat die neue Regierungskoalition versprochen, regelmäßig Bürgerversammlungen abzuhalten. In der EU sind die vier Bürgerforen im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas die umfassendsten Bürgerversammlungen, die jemals auf internationaler Ebene stattgefunden haben.
Message to go:
Autoren
Yves Dejaeghere
yves.dejaeghere@fide.eu
Anna Renkamp
anna.renkamp@bertelsmann-stiftung.de
Dr. Dominik Hierlemann
dominik.hierlemann@bertelsmann-stiftung.de
Demokratie und Partizipation in Europa (bertelsmann-stiftung.de)
Weiterführende Literatur
Quellen und weiterführende Literatur
Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens betreibt unter www.buergerdialog.be eine umfassende Website zu allen Aspekten des OBM.
Die OECD hat in einem kürzlich erschienenen Strategiepapier acht verschiedene Modelle der Institutionalisierung deliberativer Bürgerbeteiligung ermittelt, die bisher umgesetzt wurden. Sowohl das Ostbelgien-Modell als auch das Brüsseler Modell mit den gemischten Ausschüssen werden in diesem Dokument als Quellen für eine Typologie betrachtet.
Eine wissenschaftliche Abhandlung über die Entstehung des OBM als erste ständige Bürgerversammlung von Hadrien Macq und Vincent Jacquet im European Journal of Political Research.
Impressum
Demokratie und Zusammenhalt
© März 2022 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Anna Renkamp, Dr. Robert Vehrkamp
Titelbild: © kristina rütten - stock.adobe.com
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Demokratie und Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.
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Gefördert (teilweise) durch einen Zuschuss der Stiftung Open Society Institute in Zusammenarbeit mit der OSIFE der Open Society Foundations. Unterstützt (teilweise) durch einen Zuschuss der King Baudouin Foundation.