Das Projekt "Demokratie und Partizipation in Europa" und das Zentrum Liberale Moderne brachten Think Tanks, Akademiker:innen und Entscheidungsträger:innen zusammen, um diese und andere Fragen zu diskutieren. Am dritten runden Tisch der Reihe "Demokratie im Stresstest", der am 6. Dezember stattfand, nahmen unter der Moderation von Stephan Vopel Prof. Dr. Menahem Ben-Sasson, Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem, ehemaliges Mitglied der Knesset und Vorsitzender des Ausschusses für Verfassung, Recht und Gerechtigkeit, und Prof. Dr. Tamar Hermann, Senior Research Fellow am Israel Democracy Institute in Jerusalem, teil.
Wie "gestresst" ist die israelische Demokratie?
Die Knesset-Wahlen im November 2022 können zu Recht als ein ernsthafter Stresstest für die israelische Demokratie angesehen werden: Der Sieg der Likud-Partei brachte Benjamin Netanjahu zurück an die Macht, diesmal jedoch mit mehreren ausdrücklich rechten Koalitionspartnern. Wie ist dieses Wahlergebnis zustande gekommen? Wie sieht die neue Koalition aus? Was sind die größten Herausforderungen für die israelische Demokratie und wie viel Widerstandskraft hat sie, um einen so deutlichen Rechtsruck zu bewältigen?
Inhalt
Der Einfluss von Identitätspolitik und Sicherheit
Dass Identitätsspaltungen und Sicherheitspolitik die Politik in Israel prägen, ist kaum eine Überraschung. Bei den Wahlen zeigte sich eine noch stärkere Korrelation zwischen dem Grad der Religiosität oder der ethnischen Identifikation und rechtsgerichteten politischen Ansichten. Die Likud-Partei schmiedete eine Koalition mit religiösen Zionist:innen und ethnischen Extremist:innen, die für ihre anti-arabischen Ansichten bekannt sind und den jüdischen Charakter Israels betonen, statt seiner demokratischen Aspekte. Dieser politische Schritt ist selbst für einen signifikanten Teil der Likud-Wählerschaft fragwürdig, wie Umfragen zeigen. Das Gesamtproblem bleibt bestehen, so die beiden Redner:innen: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Identitätspolitik in Israel an Einfluss verliert. In Zeiten, in denen kollektive Maßnahmen weitgehend erfolglos sind, soziale Proteste keine Ergebnisse bringen und die Wähler:innen mit simplen "Bibi oder nicht Bibi"-Kampagnen konfrontiert werden, prägen Identitäten politische Entscheidungen noch stärker.
Die Wirtschaft war bei den letzten Wahlen überraschenderweise kein Thema (nicht zuletzt wegen der recht einheitlichen wirtschaftlichen Standpunkte der konkurrierenden Parteien), obwohl Israel als ein Land, das eng in die Weltwirtschaft eingebunden ist, mit einer ganzen Reihe von wirtschaftlichen Schocks und Problemen konfrontiert ist: Inflation (wenn auch signifikant geringer als anderswo), steigende Lebenshaltungskosten, zunehmende Infrastrukturprobleme, globale Störungen durch die COVID-Pandemie usw. Angesichts des Mangels an wirtschaftsstrategischen Visionen der Regierung und der Vorherrschaft kurzfristiger, taktischer Lösungen, wie beispielsweise bei der Pandemiebekämpfung, ist zu erwarten, dass der wirtschaftliche Abschwung bald zurückschlagen wird. Die Redner betonten, dass dies ein fruchtbarer Boden für bereits bestehende Identitätskonflikte sei, die sich noch weiter verschärfen könnten.
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Die Gefahren eines institutionellen Vakuums
Eine weitere Gefahr für die israelische Demokratie ergibt sich aus dem überraschenden Mangel an starken institutionellen Garantien. Die israelische Demokratie ist nur schwach konstitutionell verankert. Israel ist kaum eine Ausnahme - viele funktionierende Demokratien stützen sich nicht auf sorgfältig ausgearbeitete und geschützte Verfassungen. In Zeiten übermäßiger Identitätspolarisierung und offensichtlicher Personalisierung der Politik (ein Beispiel dafür ist Netanjahus Griff nach der Macht, um einen eigenen Korruptionsprozess zu vermeiden), ist ein solches institutionelles Vakuum jedoch gefährlich. Die Exekutive ist asymmetrisch stärker als die Knesset, und es scheint, als wäre die Regierung institutionell kaum einzuschränken. Die bereits sichtbare Radikalisierung der Koalitionspartner:innen könnte sich leicht gegen andere Institutionen wie den Obersten Gerichtshof wenden, betonten beide Redner:innen. Die israelische Demokratie ist noch jung und hat sich bisher auf einen eher normativen Konsens gestützt, der zwischen verschiedenen politischen Kräften geschmiedet wurde. Nun, da sich dieser Konsens auflöst, wie in vielen anderen Ländern auch, kann das Fehlen institutioneller Schutzmechanismen äußerst gefährlich sein.
Es gibt Hoffnung, aber kein Narrativ für die Zukunft
Auch wenn, wie ein Diskutant anmerkte, "Israel aufgehört hat, nach den Spielregeln zu spielen, die es noch bei seinem Beitritt zur Familie demokratischer Nationen akzeptierte ", gibt es immer noch Hoffnung, dass das Land den gegenwärtigen Stress bewältigen wird. Die tief verwurzelte demokratische Kultur Israels ist eine gute Grundlage. Das Fehlen eines verbindenden Narrativs und folglich eines politischen Programms für die Zukunft ist jedoch sehr besorgniserregend. Demokratien streben nach Zielen für die Zukunft, und das Fehlen dieser Ziele macht die derzeitige Belastungsprobe besonders schwierig.