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ImageLink Photography / Dennis Kan / Atlantic Council / Flickr - CC BY-NC-ND 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

, Präsidentschaftswahl: Ukraine: neue Qualität der Bürgergesellschaft

Der Unternehmer Petro Poroschenko wurde mit mehr als 50 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten der Ukraine gewählt. Eine Einschätzung der Situation im Lande und die zukünftigen Entwicklungen über die tagesaktuellen Fragen hinaus gibt der ukrainische Autor und Publizist Jurko Prochasko im Interview.

Jurko Prochasko, Jahrgang 1970, lebt in Lemberg. Er hat sich als Übersetzer von Joseph Roth, Schleiermacher, Sigmund Freud, Martin Heidegger, Robert Musil, Gottfried Benn, Günter Eich und Ingo Schulze einen Namen gemacht. Seit 1993 ist er als Literaturwissenschaftler am Institut für Literaturforschung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Lemberg tätig; Schwerpunkt seiner Arbeit ist unter anderem die Rezeption des Phänomens Galizien durch die polnische Literatur und Literaturwissenschaft. 1999 gründete er die Ukrainische Übersetzer-Assoziation. 2007 betreute er als Kurator die Lemberg-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Prochasko erhielt 2008 den Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2010 ist er Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste; 2011/12 war er als Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin tätig.

Bertelsmann Stiftung: Poroschenko – Tymoschenko: Hat Poroshenko die Unterstützung der alten politischen Eliten?

Prochasko: Nicht unbedingt. Es gibt verschiedene Eliten und unzählige Versuche der alten Eliten, sich zu verbinden, meistens für kurze Zeit, um Zugang zu Volksvermögen zu bekommen und sich in unehrlichen Geschäften zu bereichern. Daher ist schwer zu sagen, ob Poroschenko von denen unterstützt wird. Sie sind auch äußerst zynisch – keine Überzeugungen, keine Ideologie, meistens auf Gewinn und eigene Bereicherung ausgerichtet.

Wichtig ist aber zweierlei: Poroschenko hat einen klaren Schnitt mit der Umgebung des ehemaligen Präsidenten Janukowitsch gemacht, ganz eindeutig. Es gibt keine Kontakte, keine relevanten Einflüsse von dort. Positiv zu bewerten ist, dass Poroschenko den Interims-Ministerpräsidenten Jazenjuk im Amt belässt. Er hat sich gut bewährt in der schwierigen Zeit. Und Poroschenko war am Maidan, war dort ein populärer Politiker.

Poroschenko strebt auch Neuwahlen des Parlaments an (er selbst kann rechtmäßig das Parlament nicht auflösen), was in meinen Augen dringend notwendig wäre, einer der Forderungen der Revolution entspräche und die so gefragte Erneuerung des politischen Systems bringen würde.

Klar ist auch, dass er keine große Sabotage von den alten Eliten erleben wird. Es ist damit zu rechnen, dass die Partei der Regionen von innen zerfallen wird. Die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, der sich als liberal ausgebende Serhij Tihipko und Mychailo Dobkin, der erst mit dem Separatismus geflirtet hat und zum Schluss auf Einheit des Landes gesetzt hatte, sind mit niedrigen Ergebnissen herausgekommen. Die Partei der Regionen scheint erledigt, das wäre auch gut so. Die Kommunistische Partei sollte ganz verboten werden aufgrund zahlreicher eklatanter Verbrechen gegenüber der ukrainischen Souveränität.

Es gibt also keine Kraft außer Tymoschenko. Sie war zum ersten Mal in ihrer politischen Geschichte einverstanden mit dem politischen Ergebnis – sie hat bisher immer die Ergebnisse angezweifelt. Sie hat eingestanden, dass Poroschenko klar gewonnen hat. Wenn sie nicht plötzlich verrückt spielen sollte und einen neuen Maidan unter ihrer Führung startet, dann wird Poroschenko keine größeren Widerstände von den alten Eliten erfahren. Aber selbst wenn sie etwas starten würde, würde sie sofort demaskiert. Der Maidan kann ihr nicht folgen, sie kann ihn weder neu kreieren noch führen. Falls sie das versucht, wird sie eine politische Niederlage erleben. Sie ist parteipolitisch tot. Es wäre aber schön, wenn sie mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen weiterhin aktiv bleiben könnte. Sie verfügt zweifelsohne über Fertigkeiten, die jahrelange politische Erfahrung brauchen. Ich wünschte mir, es wäre das Ende ihrer Selbstüberschätzung, ihres Größenwahns; sie ist keine Person, die politische Führung übernehmen sollte.

Ein Beispiel: Wir hatten ein völlig undurchsichtiges Informationsfeld aus dem Inneren der Politik, auf dem man nur interpretieren konnte. In wirkliche Zusammenhänge war nur eine kleine Gruppe von Menschen einbezogen. Das hat sich nicht verändert, so kreisen zum Beispiel vehement Gerüchte: Tymoschenko soll an der Destabilisierung im Osten beteiligt gewesen sein. Sie habe auf die Karte der Retterin in der Not setzen wollen, wenn das nicht klappen sollte, habe sie möglicherweise versucht, sich mit dem Oligarchen Rinat Achmetow zu verbünden, um die Wahlen im Osten zu gefährden. Ich glaube, sie ist machtbesessen und wollte alles daran setzen, diese Wahlen zu gewinnen.

Bertelsmann Stiftung: Poroschenko – Putin: Was bedeutet das Wahlergebnis für das russisch-ukrainische Verhältnis? Und was bedeutet es vor allem auch für die Entwicklung im Osten und Südosten?

Prochasko: Osten und Südosten sind noch zu retten. Auch die Krim ist noch für die Ukraine zu retten – wenn Putin nicht mehr an der Macht ist und Russland finanziell völlig überlastet ist, wird das Land froh sein, nicht noch die Belastung der Krim zu stemmen.
Dieses Wahlergebnis ist enorm wichtig, denn es macht eine Reihe hartnäckiger Mythen der russischen Propaganda kaputt, mit denen Monate hantiert wurde.
Zum Ersten: Das Land ist nicht gespalten. Die Ukraine ist ein erstaunlich kohärentes, kompaktes Land, selbst dort, wo die Wahlbeteiligung nicht mehr als 10 bis 20 Prozent betrug, weil die Wahlen verhindert wurden, selbst dort waren die Tendenzen so wie in der übrigen Nation. Es gibt keine Präferenzen, die sich im Osten von denen im Süden und Westen unterscheiden. Das zeigt auch, dass trotz der Verhinderung durch die Separatisten Wahlen stattgefunden haben. Das war ein Schlag gegen das System Putin.
Zum Zweiten: Das Land ist reich. Seine Bürgergesellschaft ist hochentwickelt, nicht nur auf den Barrikaden, sondern auch im demokratischen System mit einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 60 bis 70 Prozent im ganzen Land.
Zum Dritten: Rechtsextreme haben in der Ukraine keine höhere Bedeutung. Nein, gerade in den Wahlen zum Europäischen Parlament zeigte sich, dass rechtsextreme Parteien in Europa viel mehr Einfluss haben als in der Ukraine. Der Rechte Sektor und Svoboda haben kaum 1 Prozent der Wählerstimmen eingeholt! Ja, wir haben einen Nationalismus, aber dieser ist unglaublich liberal und pluralistisch. Noch ein Schlag gegen die Propaganda aus Russland!
Zum Vierten und Wichtigsten: Die Ukrainer haben durch diese Wahl gezeigt, dass sie willens sind, ein neues Land aufzubauen und dafür Opfer zu bringen, notfalls sich selbst. Das gibt ein enorm starkes Gefühl von Neuanfang, das ich kaum beschreiben kann.
Nein, der Osten ist nicht verloren. Er kann verloren gehen – aber nur durch äußere Einwirkung.
Das ist wichtig zu bedenken, denn Poroschenko hat sehr weise und geschickt die Gegenseitigkeit der Verhandlungen angedeutet. Amnestie für Waffenniederlegung als Angebot an jene, die keine Waffen benutzt haben. Aber wer hartnäckig bleibt und weiter destabilisieren will, für den gibt es kein Pardon. Er hat am Montag nach den Wahlen die Art und Weise der Antiterror-Operation kritisiert – nicht monatelang, sondern nur wenige Stunden lang sollten sie dauern. Das zeigt, die Professionalität wird zunehmen. Er ist unbestrittener Präsident des ganzen Landes und wird als Dialogpartner angenommen.
Sein Verhältnis zu Putin: Poroschenko hat heute eingeräumt, dass ohne russische Beteiligung keine Stabilisierung möglich ist. Russland zeigt sich verhandlungsbereit: Der russische Außenminister Lawrow hat auf Poroschenkos Äußerungen bereits reagiert. Das ist ein Novum in der russisch-ukrainischen Politik der letzten Monate. Bisher hat Russland sich immer geweigert, mit der Ukraine zu reden. Russland hat immer mit anderen über die Ukraine geredet; Lawrow will jetzt mit der Ukraine reden.
Mittlerweile zweifle ich aber, ob es denn so gut ist, dass Russland die Verhandlungen tête-à-tête mit der Ukraine will: Noch vor wenigen Wochen hätten wir das vielleicht tatsächlich als ein Zeichen der Anerkennung der ukrainischen Subjektivität ausgelegt, nun scheint es sehr suspekt, und für die Ukraine möglicherweise einem politischen Selbstmord gleich.
Das Charakteristische an Putin auch jetzt: Wie immer bleibt er ambivalent. Er lässt alle Möglichkeiten zu, auch nach dem Wahlsieg Poroschenkos.

Bertelsmann Stiftung: Poroschenko – EU: welche realistischen Erwartungen hat die Ukraine? 

Prochasko: Die EU sollte endlich ihre realistischen Möglichkeiten anerkennen, zumindest ihre Hochmeister-Position verlassen und zugeben, dass sie gegenüber vielen Sachen ohnmächtig ist. Und sie sollte zugeben, dass die Ukraine nicht ausgelacht, gedemütigt und misstrauisch betrachtet werden darf, sondern vielleicht über mehr Kompetenzen in speziellen Fragen verfügt, auch was das Verständnis gegenüber Russland angeht. Der Westen sollte auf die ukrainische Erfahrung hören im Umgang mit Russland.
Natürlich hat man sich in der Ukraine schon lange von der Illusion eines Heilsbringers EU verabschiedet. Die EU war fast schon beschämend doppelzüngig. Toll war aber, dass dies trotzdem keinen Grund für Ressentiments, für Hass und Verachtung schuf, lediglich zu Enttäuschung führte. Und es ist eine sehr produktive Enttäuschung, die uns auf eine realistischere Ebene im Dialog mit der EU bringen wird. Die EU ist nach wie vor ein normatives Projekt für uns, wir haben kein besseres. Wir sind keine Illusionisten, aber nüchtern betrachtet gibt es keine Alternative. Es gibt Ideen, Anreize, Antriebe für Europa, die man besser für das eigene Wohl nutzen könnte.
Poroschenko hat Putin deutlich zu verstehen gegeben, dass der Dialog mit Russland notwendig ist, es aber Positionen gibt, von denen die Ukraine nicht mehr abzubringen ist. Dazu gehört die europäische Integration. Poroschenko wird da unbeugsam bleiben, und er hat kolossale Unterstützung. Der Zuspruch für die EU liegt bei 80 Prozent – erstaunlich und wunderbar angesichts dieser schweren Ernüchterung, aber sie war notwendig und gut.
Ein weiterer Punkt, in dem Poroschenko unnachgiebig bleibt, ist die absolut ausgeschlossene Möglichkeit, die Krim als "russisch" anzuerkennen. Sie bleibt besetztes ukrainisches Gebiet, Poroschenko möchte auch ein eigenes Ministerium für Krim-Angelegenheiten gründen.
Ich schätze die Wahrheit in der Begegnung und im Umgang zwischen EU und Ukraine. Eine richtig große, europäische Diskussion mit unserer Beteiligung ist von akuter Bedeutung und Wichtigkeit!
Ganz wichtig: Wir haben Poroschenko gewählt. Poroschenko ist unser Beamter, den wir angestellt haben und den wir kontrollieren werden. Damit bekommt die Bürgergesellschaft in der Ukraine eine völlig neue Bedeutung. Wir haben eine pluralistische liberale Revolution erlebt, keine chauvinistische oder faschistoide. Der ukrainische Nationalismus war immer antikolonialistisch und ist es immer – das ist schwer zu verstehen für Länder, die mit Faschismus andere Erfahrungen gemacht haben als wir.

Das Interview führte Gabriele Schöler, Bertelsmann Stiftung. Die Äußerungen von Herrn Prochasko entsprechen seiner persönlichen Meinung und geben nicht notwendigerweise die Positionen der Bertelsmann Stiftung wieder.

 

 

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