6. Welche unmittelbaren Maßnahmen für die Transformation der frühkindlichen Bildungssysteme empfiehlt die Bertelsmann Stiftung?
Das Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme beobachtet seit 2008 den Status quo und die Entwicklungen in den KiTa-Landschaften aller Bundesländer1. Generell zeigt sich, dass die frühkindlichen Bildungssysteme eine enorme Transformation vollzogen haben, sowohl beim Platzausbau und damit einhergehend dem Beschäftigungszuwachs als auch bei der Weiterentwicklung der pädagogischen Praxis. Nicht zuletzt sind jedoch zeitgleich die Anforderungen von Politik, Verwaltung, Arbeitgebern und auch Eltern an die Qualität der Bildungs- und Betreuungsarbeit kontinuierlich gestiegen, und immer mehr Akteure warnen davor, dass das Personal in den KiTas nicht nur belastet, sondern das System völlig überlastet und überfordert ist. Jüngst wiesen Wissenschaftler:innen auf den dringenden Handlungsbedarf hin – das System stehe vor dem"Kollaps"2. So zeigt sich in Befragungen von Fachkräften, z. B. Ver:di im Jahr 20213, oder auch Positionspapieren von Fachkräfte-Verbänden4 aus verschiedenen Bundesländern sehr differenziert die erhebliche Diskrepanz zwischen den an die KiTas bzw. die Fachkräfte gestellten Anforderungen in ihrer Bildungs- und Betreuungspraxis und den dafür verfügbaren Personalressourcen. Unverkennbar sind die Personalressourcen unzureichend, um die verantwortungs- und anspruchsvollen Aufgaben in der frühkindlichen Bildung und Betreuung gemäß den gestellten Anforderungen professionell umzusetzen.
Zu oft wird noch negiert, dass je nach spezifischem Personalmangel in einer KiTa die pädagogischen Fachkräfte bereits seit einiger Zeit – vor allem auch schon vor Corona – immer wieder dazu gezwungen sind, sich in ihrer Arbeit auf die Sicherung von Grundbedürfnissen der Kinder und die Erfüllung der Aufsichtspflicht zu fokussieren5. Die zeitlichen Kapazitäten, Bildungsprozesse zu initiieren und zu begleiten sowie die individuelle Förderung der Kinder zu sichern, waren und sind dadurch stark begrenzt. Damit werden die Rechte der Kinder auf eine gute Bildung und Betreuung verletzt.
Auf Seiten des pädagogischen Personals sind aufgrund dieser Beschränkungen ihres professionellen Handelns Entfremdungsgefühle von ihrem Beruf zu fürchten. So zeigen die Ergebnisse der HiSKiTa-Studie beispielsweise, wie Personalmangel dazu führt, dass Überlastungs- und Überforderungssituationen, die sich unter anderem in Form von Druck, Hektik und Ungeduld ebenso wie in restriktivem Handeln ausdrücken, zunehmen.6 Die Auswirkungen auf die Kinder sowie das pädagogische Personal sind somit erheblich. Insbesondere für die politischen Entscheidungsprozesse ist stärker in den Fokus der Debatte zu rücken, dass sich damit der Besuch einer KiTa für Kinder auch negativ auswirken kann: Wissenschaftliche Studien zeigen, dass einerseits eine angemessene Personalausstattung positive pädagogische Interaktionen und bildungsanregende Aktivitäten für die Kinder ermöglichen, aber andererseits eine unzureichende Personalsituation auch als hemmend auf die Entwicklung der Kinder erweisen kann.7 Bei den politischen Entscheidungsprozessen ist zudem zu berücksichtigen, dass auch vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention Kinder einen Anspruch auf eine angemessene Personalausstattung haben. Denn in der Konvention werden insbesondere die Zahl, aber auch die fachliche Eignung des Personals als wichtige Kriterien genannt, um das Kinderwohl zu gewährleisten.8
Die bestehenden Personalschlüssel in den Bundesländern zeigen, dass die aktuell landesgesetzlich geregelten Bemessungen für die Personalausstattung in den KiTas überwiegend unzureichend sind bzw. nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen für eine angemessene Ausstattung entsprechen, um verlässlich professionelle pädagogische Arbeit in allen KiTas leisten zu können. Darüber hinaus verschärft sich die Situation massiv durch Personalfluktuation, längerfristig unbesetzte Stellen und einen qualitativen Personalmangel, d. h. fachlich nicht angemessen qualifiziertem Personal.9
Neben der unzureichenden Personalausstattung der bestehenden KiTa-Plätze zeigt das Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme 2022, dass zur Deckung der Betreuungswünsche der Eltern weiterhin ein erheblicher Platzausbau erforderlich ist, der ebenfalls einen enormen zusätzlichen Personalbedarf erzeugt. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des erheblichen Personalausbaus in den letzten Jahren ist eine kurzfristige Realisierung eines ausreichenden Fachkräfteangebots allerdings wenig realistisch. Gleichzeitig gefährdet der bestehende, strukturelle Personalmangel in den KiTas die Attraktivität des Berufsfeldes und verschärft somit den Personalmangel weiter.
Damit kurzfristig der "Kollaps" des KiTa-Systems verhindert wird, erscheint es unumgänglich, Maßnahmen zu diskutieren und zu ergreifen, die bislang kaum als Handlungsoptionen ins Auge gefasst wurden. So schlägt der Verband Kita-Fachkräfte Bayern vor, beim KiTa-Rechtsanspruch die Betreuungszeiten zu begrenzen, beispielsweise auf sechs Stunden. Aus familienpolitischer Sicht regen sie an, über eine "Erhöhung des bayerischen Familiengeldes" nachzudenken, um beispielsweise Familien zu unterstützen, wenn sie ihr Kind später in die KiTa geben oder aber kürzere Betreuungszeiten nutzen.10
Auch in dem Appell11 von 150 Wissenschaftler:innen wird auf zunächst kurzfristige Maßnahmen hingewiesen und dabei auch "eine pragmatische Aufgabenfokussierung auf pädagogisches Handeln zum Wohle der Kinder und zu ihrer Förderung" als Option benannt.
Tatsächlich mehren sich die Hinweise aus der Praxis, dass Öffnungszeiten reduziert oder Gruppen geschlossen werden, weil kein Personal vorhanden ist. Damit solche aus der Not entstehenden Verfahren nicht weiter zunehmen, braucht es eine kurzfristige Klärung der Frage, welche Aufgaben und Funktionen von KiTas eingeschränkt oder auch aufgegeben werden sollen. Die dafür erforderlichen Debatten müssen unter Beteiligung aller Akteure des KiTa-System geführt werden, dabei sind auch die Perspektiven und Rechte von Kindern sowie die Bedarfe und Erwartungen von Eltern einzubeziehen. Grundsätzlich muss es das Ziel sein, für alle Kinder, deren Eltern einen KiTa-Besuch für ihr Kind wünschen, einen Platz anbieten zu können – zumal die Kinder einen entsprechenden Rechtsanspruch haben. Vor dem Hintergrund begrenzter Personalressourcen kann dies zur Folge haben, dass die Betreuungszeiten von allen Kindern reduziert werden müssen, damit tatsächlich wiederum alle Kinder einen Platz erhalten können. Gleichzeitig bedarf es einer grundlegenden Bestimmung der "Kernaufgaben" von KiTas, wobei der Maßstab die Rechte von Kindern sowie ihre Bedürfnisse und Interessen sein müssen. Dies könnte aber auch die Frage aufwerfen, ob beispielsweise einzelne Aufgaben, wie die Dokumentation von Bildungsprozessen oder die Durchführung von Tests, eingeschränkt werden können. Prinzipiell ist eine systematische Betrachtung der gestellten Anforderungen an die KiTas und der für ihre Realisierung tatsächlich erforderlichen (Personal )Ressourcen dringend notwendig. Auf dieser Grundlage kann unter Berücksichtigung der tatsächlich verfügbaren Personalkapazitäten definiert werden, welche Aufgaben und Tätigkeiten in den KiTas umgesetzt werden können oder nicht.