Das Ende der Naivität: Deutschland braucht eine neue China-Politik

   von Thomas Reichart

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Deutschland muss seine Politik gegenüber China grundlegend neu ausrichten und eine Führungsrolle bei der Entwicklung einer europäischen China-Politik übernehmen. Wirtschaftliche Interessen dürfen dabei nicht länger die Agenda dominieren. Auch die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen sollten abgeschafft werden. Statt der bilateralen Regierungskonsultationen sollte Berlin besser mithelfen, die EU-China Treffen aufzuwerten.

Deutschland hat China lange nur als „strategischen Partner“ betrachtet. Es war eine Politik der China-Naivität, die glaubte, man könne mit China gute Geschäfte machen und die hässlichen Seiten nebenher behandeln, indem man gelegentlich an die universelle Gültigkeit der Menschenrechte und an die Notwendigkeit eines funktionierenden Rechtsstaats erinnerte. Die Zeit der China-Naivität ist nun aber endgültig abgelaufen. Was aus Peking auf uns zukommt, ist »China First«. Chinas enormer Machtzuwachs und Machtanspruch zwingen Deutschland zu einem neuen Blick und einer kühleren und vielleicht auch realistischeren Politik. China wird zum Risikoland, gegen das man sich wappnen muss. Das ist nicht erst seit der Corona-Pandemie so, aber es ist eine Entwicklung, die sich dadurch noch erheblich verschärft hat.

Es ist ein neues, ein anderes China, das uns da herausfordert – es ist nicht mehr vor allem mit sich selbst beschäftigt, sondern greift über seine Grenzen mit all seiner Macht, seiner wirtschaftlichen Wucht, seinem politischen Sendungsbewusstsein aus. Wir in Deutschland und Europa müssen darauf Antworten finden. Sie betreffen unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit China, aber sie sollten darüber hinausgehen. In dem Maße, da sich die Gewichte der Welt verschieben von West in Richtung Ost, von Amerika nach China, muss sich auch unser Blickwinkel anpassen. Wir müssen lernen, genauer hinzuschauen, was in Fernost geschieht.

Bislang hat Deutschland eine China-Politik aus der Perspektive eines Handelskontors betrieben. Zentral und alles überragend war die Frage der wirtschaftlichen Beziehungen. Alles andere trat dahinter zurück, nicht völlig, aber doch so, dass Peking nicht allzu verärgert war. Deutschlands China-Politik war in erster Linie Auto-Politik. Warum sollte Deutschland für Kritik an Peking die Absatzchancen für Volkswagen und Co. in China gefährden?

 

„Die Bundesregierung sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass Kooperation durch Wohlverhalten gegenüber Chinas Ansprüchen zu erreichen sei.“

Die Leisetreterei von Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber Peking zum Beispiel in Sachen Hongkong, hatte unmittelbar mit ihrer Hoffnung zu tun, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft doch noch zu einer Einigung beim EU/China-Investitionsabkommen zu kommen. Die fortgesetzte Blockade auf Seiten Pekings zeigt, dass die Kanzlerin mit diesem Vorgehen gescheitert ist. Die Bundesregierung sollte sich deshalb von der Vorstellung verabschieden, dass Kooperation durch Wohlverhalten gegenüber Chinas Ansprüchen zu erreichen sei. Wenn es Entgegenkommen von Seiten Pekings gibt, dann entstammt es in der Regel einer kühlen und pragmatischen Analyse der eigenen Interessen und der Stärke des Gegenübers. Sie ist keine Fleißbienchen-Zensur für jene, die still gehalten haben.

Deutschlands China-Politik muss deshalb in viel größerem Maße als bislang Teil einer EU-Politik sein, gerade weil das nicht in Chinas Interesse ist. Peking redet zwar viel von Multilateralismus, macht aber in der Praxis einen großen Bogen darum. In direkten Verhandlungen mit anderen Staaten kann es viel eher sein ganzes Gewicht ausspielen. Pekings Außenpolitik erinnert dabei an die alte lateinische Weisheit: „Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt.“ Ähnlich dem römischen Imperium sieht sich China heute in der Position, Verhandlungen mit doppelten Standards zu belasten, verpackt in einer Sprache, die von einem angeblichen „Win-win“ aller Beteiligten säuselt. Vermeiden lässt sich das nur im Verbund der EU, nur so lässt sich halbwegs eine Machtbalance zu China erreichen.

 

„Deutschlands China-Politik muss deshalb in viel größerem Maße als bislang Teil einer EU-Politik sein.“

Deutschland sollte deshalb aufhören, innerhalb der EU den Eindruck zu erwecken, als wolle man für sich nochmal ein extra Schnäppchen machen. Die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen, bei denen angeführt von Chinas Ministerpräsident oder der deutschen Kanzlerin ein großer Tross von Ministern und Unternehmensbossen mal in Peking, mal in Berlin einfliegt, sollten abgeschafft werden. Höhepunkt dieser Treffen war stets, dass eine lange Reihe von Abkommen zwischen deutschen und chinesischen Unternehmen unterzeichnet wurden. Je höher die Summen, desto erfolgreicher das Treffen. Aus der Perspektive des neuen, machtvollen Chinas unter Xi Jinping wirkt das wie eine Einladung zum politischen Power-Play. Deutschland schwächt damit auch eine gemeinsame EU-Position. Statt der bilateralen Regierungskonsultationen sollte Berlin besser mithelfen, dass die EU-China Treffen aufgewertet werden.

Immer wieder heißt es: Deutschland und Europa könnten sich eine selbstbewusstere Politik nicht leisten, weil wir wirtschaftlich zu abhängig von China seien. Und es stimmt: Für kein Land in der EU ist der China-Handel so wichtig wie für Deutschland. Aber: Der Anteil der China-Exporte am gesamten Warenhandel Deutschlands liegt bei gerade mal sieben Prozent. Für die Chemie- und insbesondere die Automobilbranche mag China der wichtigste Absatzmarkt sein, an dem hierzulande Arbeitsplätze hängen. Für viele andere Branchen ist es das nicht. Mehr noch: China braucht Europa mindestens so sehr wie Volkswagen den chinesischen Automarkt. Es braucht europäische Hightech und deutsche Ingenieurskunst, die (noch) führend ist in vielen Bereichen. 

 

„Die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen sollten abgeschafft werden. Statt der bilateralen Regierungskonsultationen sollte Berlin besser mithelfen, dass die EU-China Treffen aufgewertet werden.“

Es besteht daher kein Grund dazu, dass die Furcht vor Pekings Zorn und seinen wirtschaftlichen Folgen die China-Politik maßgeblich bestimmt. Deutschland und die EU haben selbst einen Hebel, sie müssen ihn aber selbstbewusster einsetzen. Dazu müsste Berlin bereit sein, innerhalb der EU eine Führungsrolle bei der europäischen China-Politik zu übernehmen. Sich wegzuducken und abzuwarten, wie das bei Huawei und den Zulassungskriterien beim Aufbau eines 5G Netzes über Monate der Fall war, hilft da sicher nicht weiter.

Deutschlands China-Politik ist heute unausweichlich Teil des neuen Systemkonflikts zwischen Chinas Diktatur und den westlichen Demokratien. Die Vorstellung, im Umgang mit China würde es ebenfalls irgendwann einmal Wandel durch Handel geben, hat sich als falsch erwiesen. Es gab zwar viel Handel, aber keinen Wandel. Das heißt als Folge, dass andere Interessen die deutsche China-Politik viel stärker mitprägen müssen als bislang.

In Hongkong und Taiwan etwa geht es um Werte, die unsere eigenen Gesellschaften im Innersten zusammenhalten – Freiheit, Toleranz, Vielfalt, in Taiwan auch eine lebendige Demokratie. Aus Pekings Sicht ist das eine Provokation vor der eigenen Haustür. Die Art, wie die chinesische Führung damit umgeht, ist keine innerchinesische Angelegenheit. Sie geht uns alle an, weil sie viel darüber erzählt, was von einer Weltmacht China zu erwarten ist. Schließlich bricht China mit dem neuen Sicherheitsgesetz internationale Verträge und Vereinbarungen und bedroht die territoriale Integrität Taiwans.

Dort geht es deshalb auch noch um sicherheitspolitische Interessen Deutschlands. Wenn wir Taiwan nicht wichtig nehmen, wird es Taiwan bald nicht mehr geben. Wir würden Chinas Einschüchterungen, seinen Drohungen freie Bahn lassen und es letztlich dazu ermutigen, die Lösung der Taiwan-Frage militärisch zu erzwingen. Wer einen Krieg in Ostasien verhindern will, der muss Taiwan sehr ernst nehmen und sich viel deutlicher dafür positionieren als bislang.

Deutschland und die EU müssen bereit sein, dafür im Zweifel auch Sanktionen einzusetzen. Nicht weil China sich damit ändern würde, sondern weil rote Linien aufgezeigt werden. Es ist eben auch ein doppelter Standard, wenn Deutschland und die EU bei Belarus zu Sanktionen gegen Offizielle bereit ist oder Verhandlungen mit Brasiliens Bolsonaro über ein Handelsabkommen aussetzen, weil dort Regenwälder abgeholzt werden, aber angesichts von Chinas Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Tibet nur verschämt den Zeigefinger hebt.

China ist ein aufregendes Land, es ist keines, vor dem wir uns fürchten sollten. Aber wir sollten uns auch keine Illusionen machen. China wird regiert von einer diktatorischen Partei, die im Inneren wie nun auch im Äußeren ihre Macht und ihre Regeln durchsetzen will. Wenn Europa nicht zerrieben werden will im neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China, dann muss es eine eigenständigere und selbstbewusstere Politik gegenüber diesen Mächten betreiben. Und es muss den Mut haben, China klar und deutlich zu sagen, wo es zu weit geht.

 

Über den Autor

Thomas Reichart ist im ZDF-Hauptstadtstudio Korrespondent für Außen- und Sicherheitspolitik. Er leitete zuvor fünf Jahre lang das ZDF-Studio Ostasien in Peking. Im August 2020 erschien von ihm „Das Feuer des Drachen, Was Chinesen antreibt, wo sie dominieren und warum sie über uns lachen“ (dtv).

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.