Von MARTIN THUNERT
Anfang 2022 sah es so aus, als würde sich das Ergebnis von 2018, als die Republikanische Partei von Ex-Präsident Donald Trump ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus verlor, bei den Zwischenwahlen am 8. November wieder umdrehen. Umfragen prognostizierten einen Aufstand der Wähler gegen den amtierenden Präsidenten Joe Biden. Die knappen Mehrheiten der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus und im US-Senat drohten verloren zu gehen. Obwohl auch die Geschichte lehrt, dass die Regierungspartei bei den Zwischenwahlen meistens Sitze einbüßen muss, begann sich das Blatt im Laufe des Sommers zu wenden. Ein Blick in den Länderbericht USA (2022) der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung kann helfen zu erklären, warum die Zwischenwahlen dieses Mal so schwierig vorherzusehen sind.
Das Ranking der Zukunftsfähigkeit von 41 Staaten der OECD und EU im SGI 2022 zeigt, dass die USA beim nachhaltigen und langfristorientierten Regieren nach wie vor schlecht abschneiden (Rang 33). Auch bei der Bewertung der Wirtschaftspolitik – ein Thema, das für nahezu alle US-Wähler von großer Bedeutung ist – erreichen die USA nur Mittelmaß (Rang 22). Andererseits stellt der USA-Bericht für das erste Jahr der Biden-Administration fest: „2021 erreichte das sich schnell erholende BIP-Wachstum wieder ein robustes Niveau.“ Bereits unter dem früheren Präsidenten Trump waren massive Nothilfen angestoßen worden. Sie „umfassten Zahlungen an Einzelpersonen und Unternehmen sowie erweiterte Steuergutschriften und Arbeitslosenunterstützung.“ Angesichts der sich seit den Trump-Jahren leicht verbessernden Werte politischer Indikatoren, insbesondere im Bereich der Wirtschaft, ist eine vernichtende Niederlage der Mehrheitspartei des amtierenden Präsidenten daher eher unwahrscheinlich, auch wenn ein Scheitern nicht völlig ausgeschlossen werden kann.
Nach dem SGI-Ranking sind die USA das am stärksten parteipolitisch polarisierte Land. Beide Seiten der politisch gespaltenen Wählerschaft werden in diesem Wahljahr an die Urnen streben – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Besonders ein Ereignis stimmte die Demokraten zunächst optimistisch, die Verluste der Partei eindämmen zu können: die Ende Juni vom Obersten Gerichtshof getroffene Entscheidung in der Rechtssache Dobbs v. Jackson Women's Health Organization, die das seit der Entscheidung Roe v. Wade von 1973 bestehende landesweite verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung beendet. Zumindest anfänglich hatte dieses Urteil einen erheblichen mobilisierenden Effekt, vor allem auf Frauen, und lenkte sie in Richtung der demokratischen Kandidaten. Umfragen aus dem Spätsommer 2022 legten dagegen nahe, dass der Erfolg des US-amerikanischen Konservatismus, nach jahrzehntelangen Bemühungen Roe v. Wade zu Fall gebracht zu haben, bei konservativen Wählern wenig wahlmobilisierend wirkte. Zufriedene Behäbigkeit machte sich in den amerikanischen Kleinstädten, die eher republikanisch stimmen, breit. Doch allerjüngste Umfragen zeigen, dass Wirtschaftsthemen die Bedeutung des Abtreibungsthemas schrumpfen lassen.