Das Anwachsen der sozialen Kluft gefährdet in den Industrieländern den Kampf gegen den Klimawandel. Was will Deutschland im G7-Staatenkreis dagegen unternehmen? Ein Kommentar zum Tag der sozialen Gerechtigkeit.
von Karola Klatt
Mit dem Jahreswechsel hat Deutschland den G7-Vorsitz übernommen. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte an, ihn zu nutzen, um die führenden demokratischen Industrienationen – USA, Kanada, Großbritannien, Japan, Frankreich, Italien und Deutschland – zum Vorreiter „für klimaneutrales Wirtschaften und eine gerechte Welt“ werden zu lassen. Das Vorhaben klingtgut, denn die Energiewende kann nur gelingen, wenn sie sozialverträglich ist.
Die seit den 1980er-Jahren vorherrschende multilaterale Politik der deregulierten Märkte, die für Wachstum, Entwicklung und Wohlstand sorgen sollte, ließ Einkommen und Vermögen steigen – aber nicht für alle. Selbst in den G7-Staaten zählten große Teile der Mittelklasse, besonders hart getroffen durch Finanz-, Euro- oder COVID-19-Krise, zu den Verlierern dieser Politik. Eine bittere Lehre, die die G7 aus den letzten zwei Jahrzehnten ziehen mussten, ist: Das Größerwerden der sozialen Kluft gefährdet Demokratie und Multilateralismus.
In der Mittelschicht wächst die Angst vor dem Abstieg
Auch in der jüngsten Krise, der COVID-19-Pandemie, ist wieder die untere Mittelschicht am stärksten existenziell betroffen. Der kürzlich veröffentlichte Länderbericht Deutschland der Studie „Nachhaltiges Regieren im Kontext der Coronakrise“ der Bertelsmann Stiftung warnt: „Die gravierenden negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie könnten den gesellschaftlichen Konsens, dass Dekarbonisierung den damit verbundenen hohen Aufwand und die Kosten rechtfertigt, gefährden.“
Dass OECD-weit die politisch stabilisierenden Mittelschichten schrumpfen und aufgrund stagnierender Einkommen, steigender Lebenshaltungskosten und größerer Arbeitsplatzunsicherheit stärker unter Druck geraten, belegt eine Studie der OECD. Das Risiko, aus der Mittelschicht abzusteigen oder als junger Mensch erst gar nicht hineinzukommen, hat fast überall zugenommen. Besonders von dieser Entwicklung betroffen sind die USA, Kanada und Deutschland. Auch für Japan, das nach der OECD-Studie bisher noch keinen Mittelstandsschwund verzeichnet, warnen die Länderexperten der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung: „Die [Corona-]Krise droht Ungleichheiten bei der Vermögens- und Einkommensverteilung zu verschärfen und könnte die Prekarisierung beschleunigen.“
Bundesregierung setzt ihre G7-Prioritäten
Bei ihrer ersten Kabinettsklausur beschloss die Bundesregierung nun kürzlich ihr Programm für die G7-Präsidentschaft 2022 mit dem Titel „Fortschritt für eine gerechte Welt“. Über die soziale Ungleichheit heißt es dort, sie „greift das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit demokratischer Systeme an, die zunehmende Verunsicherung wiederum schafft zusätzlich den Nährboden für Desinformation und wird zum Rückbau der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaats instrumentalisiert.“ Deshalb wolle man sich unter vielem anderen für die Beschäftigungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, menschenwürdige Arbeit und den Auf- und Ausbau von Sozialschutzsystemen einsetzen. Man sei der festen Überzeugung, „dass ökologische und sozial gerechte Transformation und ökonomischer Wohlstand Hand in Hand gehen können.“
Schafft das Vertrauen bei Menschen, die schon jetzt zutiefst verunsichert sind, weil sie in den Innenstädten keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden, obwohl sie nach offiziellen Statistiken zur Mittelschicht gehören? Die millionenfach von drastisch steigenden Energiepreisen betroffen sind, Heizungen drosseln, nicht mehr in den Urlaub fliegen, das Auto abschaffen – und dabei zusehen, wie Milliardäre sich als Weltraumtouristen ins All schießen lassen?
Gegensteuern bei steigenden Energiepreisen
Vertrauen entsteht wohl weniger durch G7-Programme und Gipfeldokumente als durch konkrete Politik in den Ländern. Wie Klimaneutralität sozialverträglich gestaltet werden kann, kann man am Beispiel der Energiekosten durchspielen. Ganz unabhängig von den derzeitigen Turbulenzen an den Energiemärkten müssen die Preise für fossile Energien steigen, wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreicht werden sollen, denn nur so lässt sich erreichen, dass zum Wohle aller sparsam damit umgegangen wird, bis erneuerbare Energien sie größtenteils ersetzen können. Die Instrumente, die Staaten dafür haben, sind CO2-Bepreisung und Abgaben. Wie aber verhindert man, dass sich die Ärmeren das Heizen nicht mehr leisten können?
Viele fordern in diesem Zusammenhang Steuersenkungen. Tatsächlich machten Steuern, Abgaben und Umlagen in Deutschland bei der Gasnutzung in Haushalten im ersten Halbjahr 2021 rund 33 Prozent des Gesamtpreises aus. Würde man die Steuern auf Energie senken, würde das ärmere Haushalte zwar entlasten – wohlhabendere aber auch, die ohnehin einen deutlich höheren Energieverbrauch haben. Eine viel klimafreundlichere und einfacher zu realisierende Maßnahme ist die gezielte Unterstützung von besonders betroffenen Haushalten. Neben den Armen und Geringverdienern sollten dann jedoch auch Steuerzahler mit mittleren Einkommen Hilfen bekommen, bei denen infolge steigender Energiepreise ein Abrutschen aus der Mittelschicht in die Armutsgefährdung droht.
Klimaschädliche Subventionen sozialverträglich abbauen
Finanzieren ließe sich diese Unterstützung in Deutschland aus den Mehreinnahmen, die der Staat durch den Abbau von klimaschädlichen Subventionen, zum Beispiel die Energiesteuerbefreiung für Kerosin oder die Pendlerpauschale, erzielen könnte. Für 2018 beziffert eine Studie des Umweltbundesamtes ihren Umfang auf 65,4 Milliarden Euro. Am meisten profitieren davon einkommensstarke Bevölkerungsgruppen. Schon im Mai 2016 einigten sich die G7 darauf, ineffiziente Subventionen für Öl, Gas und Kohle bis 2025 zu beenden. Beim letzten Treffen in Cornwall wurde dieser Entschluss erneut bekräftigt, bisher ist jedoch wenig auf dieses Ziel hin geschehen. Hier könnte die deutsche G7-Präsidentschaft mit entschlossenen Reformen zum Vorbild werden. Vorausschauend müssten auch hier negative soziale Folgen mitbedacht und die Reformpakete um entsprechende Maßnahmen zu ihrer Vermeidung erweitert werden.
Nur wenn es gelingt, die Kosten für den Wandel zur Klimaneutralität für die einkommensschwächeren Haushalte sozialpolitisch abzufedern, werden genug Menschen für diesen Weg zu gewinnen sein. Der Angst vor dem sozialen Abstieg muss mit einer insgesamt gerechteren Politik begegnet werden, die verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnt, denn der Zusammenhalt der Gesellschaft ist für die nationalen wie internationalen Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel entscheidend.
Karola Klatt ist Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der SGI News und des BTI Blogs der Bertelsmann Stiftung.