Silhouette von erhobenen Armen, die die ukrainische Flagge schwenken
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Rally around the flag in Krisenzeiten : Warum die Stunde der Exekutive nicht für jeden schlägt – und schon gar nicht für Joe Biden

Drei Monate ist es nun schon her, dass der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab. Der Krieg läuft anders ab, als der Kreml-Chef es sich vorgestellt hat. Derzeit tobt eine gnadenlose Offensive im Osten, die nur langsam Geländegewinne macht. Das Massensterben geht weiter – unter den Toten auch Tausende russische Soldaten.

Von Karola Klatt

Drei Monate ist es nun schon her, dass der russische Präsident Wladimir Putin den Befehl zum Angriff auf die Ukraine gab. Der Krieg läuft anders ab, als der Kreml-Chef es sich vorgestellt hat. Derzeit tobt eine gnadenlose Offensive im Osten, die nur langsam Geländegewinne macht. Das Massensterben geht weiter – unter den Toten auch Tausende russische Soldaten.

Dennoch sind die Zustimmungswerte für Putin nach einer Umfrage des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Lewanda-Zentrum nach wie vor sehr hoch. Nach Beginn des Angriffskriegs stieg Putins Popularität von 71 auf 83 Prozent. Lediglich um einen Prozentpunkt ist sie in den drei Monaten des Krieg seither wieder gefallen. Noch deutlicher stieg nach den Zahlen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Rating Group Ukraine die Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Zustimmungsrate zu seiner Amtsführung verdreifachte sich seit Dezember 2021 und erreichte Ende Februar 2022 nach Ausbruch des Kriegs 91 Prozent.

Zusammenhalt als Antwort auf Krisen

Solch rapide Anstiege der öffentlichen Unterstützung haben in den 1970er Jahren von Politikwissenschaftlern einen Namen bekommen: „Rally-around-the-flag-Effekt“, auf Deutsch auch „Stunde der Exekutive“. Die Theorie besagt, dass Menschen dazu neigen, sich in Zeiten äußerer Bedrohung zusammenzuraufen und geeint hinter ihre amtierende Führung zu stellen. Dieser Effekt ist nicht auf Konflikte und Kriege beschränkt, er war auch beim Ausbruch der Corona-Pandemie zu beobachten: Die Umfragewerte des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, des italienischen Premierministers Giuseppe Conte, des holländischen Premierministers Mark Rutte und des britischen Premierministers Boris Johnson stiegen deutlich in den Wochen der ersten Corona-Welle.

Die menschliche Regung des Zusammenstehens kam den Staats- und Regierungschefs auch hier zugute. Die Sonderstudie der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung zum COVID-19-Krisenmanagment von 29 Industrieländern stellt dazu fest: „Insbesondere zu Beginn der Pandemie beobachteten wir in vielen Ländern – auch in solchen mit einer stark polarisierten Parteienlandschaft – ein hohes Maß an Kooperation zwischen verschiedenen politischen Akteuren, die sich in einer kurzfristigen Unterstützung des Regierungshandelns im Sinne eines ‚Rally-around-the-flag‘-Effekts manifestierte.“

Nicht alle können von Krisen profitieren

Eine Frage, die die Wissenschaft seit der Entdeckung des Rally-around-the-flag-Effekts umtreibt ist: Warum steigt in bedrohlichen Zeiten die Unterstützung für viele Staats- und Regierungschefs – aber längst nicht für alle? Warum gewann Viktor Orban nach Kriegsausbruch die Wahlen in Ungarn viel deutlicher als die Umfragen es vorhergesehen hatten, während Emmanuel Macron um seine Wiederwahl bangen musste und der rechtspopulistische slowenische Ministerpräsident Janez Janša sogar abgewählt wurde? Und warum kann der amerikanische Präsident Joe Biden trotz sofortigen, energischen Handelns und deutlicher Worte gegen die russische Aggression keinen Aufwärtstrend in seinen Umfragewerten verbuchen? Warum schlägt ausgerechnet für ihn im so wichtigen Jahr der Midterm Elections die Stunde der Exekutive nicht?

Ein Grund könnte in der empfundenen Distanz zum Ursprung der Bedrohung liegen. Der Krieg in der Ukraine ist für die meisten Amerikaner zu weit weg, um sich selbst bedroht zu fühlen, und stellt auch für viele Mittel- und Westeuropäer, keine unmittelbare Kriegsgefahr dar, solange die NATO nicht in die Kampfhandlungen eingreift oder reichweitenstarke Waffen an die Ukraine liefert. Die Corona-Angst der ersten Wochen wirkte auf die Menschen hier stärker, denn die Gefahr lauerte direkt in der eigenen Umgebung. Dies führte schließlich auch dazu, dass selbst Donald Trump trotz seines widersprüchlichen und chaotischen Krisenmanagements sich kurzzeitig über steigende Zustimmungswerte freuen konnte.

Polarisation verhindert Krisenzusammenhalt

Mein zweiter Erklärungsversuch geht auch auf Erfahrungen aus der Corona-Pandemie zurück: In vielen Länder sank die Zustimmung zur Krisenpolitik der Staats- und Regierungschefs schon nach kurzer Zeit wieder. Dies war laut SGI-Sonderstudie vor allem in Ländern zu beobachten, die „daran scheitern, parteipolitische Gräben zu überwinden“.

Die USA sind eine zutiefst gespaltene Nation, auch über die außenpolitische Rolle ihres Landes gehen die Meinungen auseinander. Trump gewann die Wahlen 2016 unter anderem mit dem Versprechen, dass die USA nicht länger für die Welt Polizei spielen werde. Ein militärisches Eingreifen in anderen Ländern sollte es unter seiner Präsidentschaft nur noch geben, wenn nationale Interessen auf dem Spiel stünden. Auch die Demokraten verfolgten angesichts der vielen erfolglosen Kriege die Idee des Rückzugs. Doch während sich Demokraten um den Fortbestand der liberalen Weltordnung und das Unterstützen demokratischer Transformationen sorgten, umgarnte Trump auch unverhohlen Autokraten und Diktatoren, wenn ein guter Deal dabei herausspringen konnte.

Reflexartige Ablehnung, wenn Bidens Name fällt

In Bezug auf die russische Invasion scheinen sich Demokraten und Republikaner auf den ersten Blick so einig wie schon lange nicht mehr zu sein. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage der University of Maryland zeigt, dass mehrheitlich sowohl die Demokraten als auch die Republikaner in dem russischen Überfall auf die Ukraine vor allem eine „eklatante Verletzung der Souveränität und des Völkerrechts“ sehen. Bei der Bewertung der Reaktionen der US-Regierung gegen die russische Aggression gab es jedoch bemerkenswerte Unterschiede bei den befragten Republikanern, je nachdem, ob sie gebeten worden waren, „Maßnahmen der US-Regierung“ oder „Maßnahmen der Biden-Administration“ zu beurteilen.

Beispielsweise befürworteten 61 Prozent der befragten Republikaner die frühzeitige Warnung der internationalen Gemeinschaft vor den Plänen Russlands, wenn ihnen diese Maßnahme in der Frage als eine Reaktion der US-Regierung präsentiert wurde, aber nur 28 Prozent, wenn die Maßnahme als von der Regierung Biden initiiert darstellt wurde. Allein die Erwähnung des Namens Biden führte also dazu, dass Maßnahmen, die mehrheitlich von den Republikanern eigentlich mitgetragen werden, durchfielen.

Aufschlussreich ist auch eine andere Umfrage der University of Maryland aus dem März: Vor die Wahl gestellt, welchen Staatsmann sie am stärksten ablehnten, nannten die meisten Republikaner an erster Stelle Joe Biden, erst dann folgte auf Platz zwei Wladimir Putin. Wenn in großen Teilen der Bevölkerung der Hass auf den eigenen Präsidenten größer ist als das Entsetzen vor dem russischen Aggressor, der das Völkerrecht mit Füßen tritt, dann kann auch keine Stunde der Exekutive schlagen.

Karola Klatt ist Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der SGI News und des BTI Blogs der Bertelsmann Stiftung.

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