Seine zweite Amtszeit als französischer Präsident durfte Emmanuel Macron kürzlich beginnen, doch mit den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni 2022 steht ihm gleich die nächste große Prüfung bevor. Nur mit einer Mehrheit im Parlament wird er seine Reformagenda durchsetzen können. Wird es ihm gelingen, breitere Wählerschichten anzusprechen?
Von ANTONIA PIEPER
Als Emmanuel Macron am 24. April nach seinem Sieg bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2022 die Bühne betrat, wirkte er erleichtert, aber auch demütig. „Ich weiß, dass viele unserer Mitbürger heute für mich gestimmt haben, um die Ideen der Rechtsextremen zu verhindern und nicht, um meine zu unterstützen“, räumte er ein. „Ich weiß, dass ihre Stimme mich für die kommenden Jahre verpflichtet.“
Seine Worte folgten auf ein knappes Rennen um die Präsidentschaft: Obwohl Macron in der zweiten Runde ein überzeugender Sieg gelang – er erhielt 58,5 Prozent der Stimmen und ist damit seit 20 Jahren der erste französische Staatschef, der wiedergewählt wurde –, war die Unterstützung für seine rechtsextreme Herausforderin Marine Le Pen, die 41,5 Prozent erreichte, ebenfalls herausragend.
Dieses polarisierte Ergebnis spiegelt eine ganze Reihe von Herausforderungen wider, mit denen Frankreich in den letzten Jahren zu kämpfen hatte. Wie der jüngste Länderbericht der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung hervorhebt, erschweren die zersplitterte Linke, die zunehmende Frustration großer Teile der Bevölkerung gegenüber der politischen Elite sowie die weitere Radikalisierung der extremen Rechten die Konsensbildung und eine nachhaltige Politikgestaltung in einer Zeit, die von zunehmender Globalisierung, Europäisierung und der Klimakrise geprägt ist.
Während das Land auf die Parlamentswahlen zusteuert, die über die Verteilung der Parlamentssitze und damit über das Ausmaß an Macht entscheiden, die der Präsident letztlich haben wird, um seine politische Agenda voranzutreiben, scheinen Spaltung und Spannungen erneut die Medien zu beherrschen. Umfragen deuten darauf hin, dass Macron, der mit seiner Partei unter ihrem neuen Namen „Renaissance“ eine zweite parlamentarische Mehrheit anstrebt, Gegenwind von Le Pens rechtsextremer Partei Rassemblement National (RN) und dem neu gegründeten linken Wahlbündnis Neue Ökologische und Soziale Volksunion (NUPES) unter der Führung von Jean-Luc Mélenchon erwarten darf, die beide ihre Anteile an Sitzen erhöhen werden.
Noch gibt es für Macron deshalb keinen Grund aufzuatmen. Der Erfolg seiner zweiten Amtszeit wird maßgeblich davon abhängen, wie gut es ihm gelingen wird, die Herzen und den Verstand jener Bürgerinnen und Bürger zu erreichen, die nicht seiner zentristischen Stammwählerschaft angehören.
Viel ist in der ersten Amtszeit liegen geblieben
Die großen Herausforderungen, vor denen Frankreich steht, sind bekanntermaßen vielfältig und nahezu unlösbar: explodierende Staatsverschuldung, anhaltende Jugendarbeitslosigkeit, kostspielige notwendige Reformen in den Bereichen Bildung und Innovation, Verkleinerung des schwerfälligen öffentlichen Sektors, bessere sozialen Integration von Randgruppen und wirksamere und schnellere Bewältigung des Klimawandels.
Obwohl Macron viel unternommen hat, um ehrgeizige Reformen durchzusetzen – in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Arbeits- und Gesellschaftsrecht, dem Schul- und Hochschulsystem und der Armutsbekämpfung – konnten seine innenpolitischen Erfolge die zunehmende Unzufriedenheit der französischen Bevölkerung nicht stoppen. Wie aus dem SGI-Bericht hervorgeht, ist diese Enttäuschung zum Teil darauf zurückzuführen, dass seine Reformagenda, die unter anderem darauf abzielt, Frankreichs Verwaltung zu modernisieren, das Land wirtschaftsfreundlicher zu machen und das teure Rentensystem umzustrukturieren, bisher nicht in ausreichendem Maße auf die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger außerhalb seiner zentristischen Wählerschaft eingegangen. Die französische Regierung hat Nachholbedarf bei der effektiven Verringerung von Treibhausgasemissionen, zudem steigen die Lebenshaltungskosten zusammen mit der Inflationsrate weiter an. Viele junge Wählerinnen und Wähler fühlen sich von Macrons Politik ausgeschlossen und haben Mühe, ihre Prioritäten in seiner Agenda wiederzufinden.
Der Schlüssel zum Erfolg seiner zweiten Amtszeit wird daher sein, das politische Portfolio um wirkungsvolle Maßnahmen zur Bewältigung von Klimakrise, Umweltproblemen und neuer sozialer Risiken zu erweitern sowie den gesellschaftlichen Dialog mit organisierten Interessengruppen zu verbessern, beispielsweise mit den Gewerkschaften, die in der Vergangenheit viele seiner Reformvorschläge blockiert haben.
Mit der Ernennung von Elisabeth Borne zur neuen Premierministerin hat Macron kürzlich einen ersten wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Sie war bereits Ministerin für Verkehr, für sozial-ökologischen Wandel und zuletzt für Arbeit und ist sehr erfahren im Verhandeln mit Gewerkschaften sowie in der Arbeit für den zentristischen Flügel der Sozialistischen Partei. Es wird für Macron entscheidend sein, weitere Politikerinnen und Politiker, die über vielfältige Expertisen in den vernachlässigten Bereichen verfügen, in sein Kabinett zu integrieren.
Reformierung der Spielregeln
Nicht nur Politikerinnen und Politiker treiben die Polarisierung der französischen Bevölkerung voran, der Trend verschärft sich auch durch die institutionellen Besonderheiten des Wahlsystems. Die Mitglieder der Nationalversammlung werden derzeit in einer Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen bestimmt. Die Kandidatinnen und Kandidaten müssen beim ersten Urnengang 12,5 Prozent aller registrierten Stimmen auf sich vereinen, um überhaupt in die zweite Runde zu gelangen – eine hohe Hürde angesichts des allgemein geringen Wahlinteresses, insbesondere bei jüngeren Wählerinnen und Wählern und Werktätigen. Das führt dazu, dass große Teile der Bevölkerung unterrepräsentiert sind. Bei den Wahlen 2017 beispielsweise konnte der RN nur 8 von 577 Sitzen erringen, Mélenchons Bewegung La France Insoumise gewann gerade mal 17 Sitze.
Wenn es jedoch kaum Überschneidungen zwischen den Anliegen großer Teile der Bevölkerung und den Debatten im Parlament gibt, sucht die Opposition sich andere Kanäle, ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Aus dem gegenwärtigen Wahlsystem erwächst deshalb in Verbindung mit Macrons Stil des Top-Down-Regierens Frustration und Misstrauen gegenüber der politischen Elite, in deren Folge es zu Konfrontationen und sogar Gewalt auf den Straßen kommt.
Wie lässt sich also der Status quo ändern? Eine Möglichkeit wäre die Einführung des Verhältniswahlrechts bei den Parlamentswahlen, um den französischen Bürgerinnen und Bürgern mehr politische Wahlmöglichkeiten zu bieten und eine stärkere Machtteilung zwischen Exekutive und Legislative zu fördern. Eine solche Änderung liegt in der Hand des Präsidenten, der dafür lediglich eine parlamentarische Mehrheit und keine Änderung der Verfassung benötigt. In der Vergangenheit hat Macron sogar schon einmal vorgeschlagen, ein kleines bisschen Verhältniswahlrecht einzuführen, diesen Plan aber später wieder verworfen.
Eine weitere Möglichkeit für Wahlrechtsreformen wäre, die Parlamentswahlen vor der Präsidentschaftswahl statt direkt danach abzuhalten. Die derzeitige Regelung schürt Wahlmüdigkeit und begünstigt die Partei des siegreichen Präsidentschaftskandidaten – ein Wechsel zwischen beiden Wahlen könnte hier Abhilfe schaffen und eine vielfältigere demokratische Vertretung fördern.
Der Präsident ist sich bewusst, dass er Interessen vorsichtig austarieren muss, wenn seine zweite Amtszeit erfolgreich und nachhaltig sein soll. Am Fuße des Eiffelturms hat er erklärt, sich für das Land insgesamt und nicht nur für ein einzelnes Lager einsetzen zu wollen. Jetzt ist es an ihm, dieses Versprechen einzulösen.
Antonia Pieper studiert im Masterstudium Sozialpolitik und soziale Innovation an der Sciences Po in Frankreich. Seit Mai 2022 ist sie als Praktikantin Mitglied des SGI-Teams.
Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.