Mann zieht leere Hosentaschen aus der Hose

Das Heer der armen Erwerbstätigen

Die einfache Gleichung der Vergangenheit, weniger Arbeitslose bedeutet weniger Armut, stimmt nicht mehr. Obwohl in vielen westlichen Ländern die Beschäftigungsquoten steigen, werden die Armen nicht weniger. Was läuft in der Arbeitsmarktpolitik falsch?

Von Justine Doody

Die Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Europäischen Union befinden sich nach der großen Rezession wieder auf Wachstumskurs. Handel und Investitionen steigen und die Arbeitsmärkte folgen. Selbst in Krisenländern wie Spanien und Italien sinkt die Arbeitslosigkeit.

Doch die Zahlen verschleiern eine bittere Wahrheit: Trotz steigender Beschäftigung, nimmt die Armut nicht ab. Eine wichtige Erkenntnis des gerade erschienenen Social Justice Report 2019 der Bertelsmann Stiftung ist, dass Arbeit kein Garant mehr für einen komfortablen Lebensstandard ist. Die durch die Krise geschwächten sozialen Sicherungssysteme haben mit den sich ändernden Beschäftigungsstrukturen nicht Schritt halten können. Angesichts einer möglichen neuen Rezession müssen die Regierungen der Industrieländer ihre Arbeitsmarktpolitiken überprüfen, wenn die Ärmsten die Hauptlast des nächsten Abschwungs nicht noch einmal tragen sollen.

Im Jahr 2017 lebten 9,4 Prozent der EU-Arbeitnehmer in Haushalten, die von Armut bedroht waren, und verdienten weniger als 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens. Im Jahr 2010 lag dieser Wert noch bei 8,3 Prozent. In den USA, wie aus dem kürzlich veröffentlicheten Länderbericht der Sustainable Governance Indicators (SGI) 2019 der Bertelsmann Stiftung hervorgeht, verdienten 2017 24,5 Prozent der Arbeitnehmer weniger als zwei Drittel des Durchschnittseinkommens des Landes und 17,8 Prozent der US-Amerikaner waren 2018 von Armut bedroht, obwohl die Arbeitslosenquote im selben Jahr nur 3,94 Prozent betrug. Schätzungen zufolge werden von den Bundesstaaten bis zu 6 Milliarden US-Dollar als Nahrungsmittelhilfen an Vollzeitbeschäftigte gezahlt, deren Löhnen nicht zum Leben reichen.

Gesetzlicher Mindestlohn greift zu kurz

In vielen Ländern haben sich die Haushaltseinkommen seit der Krise nicht erholt: In Spanien beispielsweise führte der Abschwung zu einem Einfrieren der Löhne. Da die Arbeitslosigkeit hoch geblieben ist, sind die Gehälter seither kaum gestiegen, was bedeutet, dass die Reallöhne gesunken sind. Wie in anderen Ländern auch wurde in Spanien die Einführung eines Mindestlohns als mögliche Lösung gesehen: 2019 erhöhte das Land seinen Mindestlohn um 22 Prozent. Rumänien führte für verschiedene Wirtschaftszweige unterschiedliche Mindestlöhne ein. Im Vereinigten Königreichs bewirkt eine Kampagne für existenzsichernde Löhne seit der erstmaligen Einführung eines Mindestlohns im Jahr 1998 für einen stetigen Anstieg. So richtig die Durchsetzung von Mindestlöhnen auch ist, das ganze Problem können sie nicht lösen: Wie ein EU-Bericht über Erwerbstätigenarmut feststellt, sind Mindestlöhne, auch wenn sie als angemessen gelten können, doch so bemessen, dass eine Person davon ihr Auskommen finden kann, und reichen nicht aus, um eine ganze Familie mit einem einzigen Lohn zu unterhalten.

Darüber hinaus sind Mindestlöhne so konzipiert, dass sie bei Vollzeitbeschäftigung ein Auskommen sichern, doch in der heutigen Arbeitswelt nimmt die Vollzeitbeschäftigung stetig ab. Im Vereinigten Königreich ist beispielsweise nur einer von 40 Arbeitsplätzen, die seit der Rezession entstanden sind, eine Vollzeitstelle. Und laut dem kürzlich veröffentlichten SGI-Länderbericht 2019 für Spanien sind dort „die meisten neu entstandenen Arbeitsplätze unsicher und minderwertig, wie der starke temporäre Anstieg der Arbeitslosigkeit im August 2018 belegt (der höchste seit 2011).“ Tatsächlich waren 91 Prozent aller im ersten Halbjahr 2018 in Spanien geschlossenen Arbeitsverträge befristet, 38 Prozent davon mit einer Dauer von weniger als einem Monat. Dem gegenüber stehen 80 Prozent der Zeitarbeiter, die gerne eine unbefristete Vollzeitstelle hätten. Die Zahl der unfreiwilligen Zeitarbeiter ist bezogen auf die gesamte EU zwar geringer, aber immer noch höher als 2008: 7,4 Prozent der Arbeitnehmer hatten nur einen befristeten Arbeitsvertrag und 4,7 Prozent eine Teilzeitstelle, ohne dies zu wollen. Und in den USA würden 4,4 Millionen Teilzeitbeschäftigte der insgesamt 131,7 Millionen Werktätigen gerne mehr arbeiten. Sogar wem es gelingt, eine Vollzeitstelle zu bekommen, ist in den USA nicht sicher: Die Hälfte aller neuen Stellen wird innerhalb des ersten Jahres wieder gestrichen.

Hohes Armutsrisiko für Selbständige, Zeitarbeiter und Teilzeitbeschäftigte

Leicht lässt sich ermessen, dass Leih- und Teilzeitarbeiter stärker armutsgefährdet sind als Festangestellte. In der EU waren 16,2 Prozent der befristet Beschäftigten und 15,6 Prozent der Teilzeitkräfte trotz Erwerbstätigkeit arm. Die Selbständigen in der EU sind einem noch höheren Risiko ausgesetzt: 22,2 Prozent sind von Erwerbsarmut betroffen. Viele dieser Selbständigen sind freie Mitarbeiter mit Werkverträgen – eine oft von Unternehmen genutzte Möglichkeit, ihre Arbeitskraft einzusetzen, ohne sie als Angestellte in die Bücher schreiben und ihnen die damit verbundenen Vorteile gewähren zu müssen. Ein Nebeneffekt dieser Art von Beschäftigung ist, dass sie den Menschen die Möglichkeit nimmt, sich auf der Karriereleiter hochzuarbeiten. Wenn die Mitarbeiter auf der untersten Hierarchieeben keine regulären Angestellten sind, können sie auch nicht innerhalb des Unternehmens aufsteigen.

In den USA ist die Gesundheitsvorsorge häufig an eine Vollzeitbeschäftigung gebunden, was bedeutet, dass ein Vollzeitjob buchstäblich den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann. Auch wenn andere vergleichsweise reiche Länder eine bessere staatliche Gesundheitsfürsorge haben, wurden die Sozialsysteme im Allgemeinen von der Krise und ihren Folgen in Mitleidenschaft gezogen. Die Kosten für Wohnen, Energie und Kinderbetreuung sind in vielen Ländern hoch und steigen weiter, wovon die Ärmsten am stärksten betroffen sind. Beispielsweise geben 10 Prozent der EU-Bürger mehr als 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus (die sogenannte Überbelastung), von den ärmsten Haushalten sind es jedoch 40 Prozent. In Griechenland beträgt die durchschnittliche Überbelastung 72 Prozent des monatlichen Einkommens, selbst im wohlhabenden Dänemark liegt die durchschnittliche Überbelastung bei 60 Prozent.

Arbeitsmarktpolitiken, die nur auf die Schaffung von Arbeitsplätzen abzielen und diese Bedürftigkeit ignorieren, werden Menschen nicht aus der Armut holen. Großbritannien hat beispielsweise praktisch Vollbeschäftigung, aber in einem Jahrzehnt der Sparpolitik stieg zwischen 2010 und 2018 die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, um 165 Prozent und das Land hat heute 2.000 Tafeln im Vergleich zu 29 vor der Krise. Teil der Lösung müssen menschenwürdige Arbeitsplätze mit geregelten, regelmäßigen Arbeitszeiten und Aufstiegschancen sein, aber auch die Schaffung oder Wiederherstellung einer sozialen Absicherung, um diejenigen aufzufangen, die in der heutigen Arbeitswelt keinen angemessenen Platz finden können.

Justine Doody ist Redakteurin und Analystin mit den Schwerpunkten internationale Beziehungen, Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit. Sie schreibt für die SGI News und den BTI Blog der Bertelsmann Stiftung.

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt.