Kind beim Home Schooling

Estland im Beratermodus

In den europäischen Ländern starten die Schule nach den Sommerferien mit der bangen Frage, wann wieder zum digitalen Fernunterricht übergegangen werden muss. Entspannt ist man nur in Estland: Hier hilft der hoher Digitalisierungsgrad der Gesellschaft bei der Bewältigung von Pandemieeinschränkungen.

von KAROLA KLATT

Ein wildes digitales Schuljahr“, kündigte die estnische Bildungs- und Forschungsministerin Mailis Reps im letzten Herbst an, ohne damals schon zu ahnen, wie wild digital es für Schüler, Lehrer und Eltern nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie tatsächlich werden würde. Worauf sie eigentlich vorbereiten wollte, war der weitere Ausbau der IT-Infrastruktur, vor allem des Hochgeschwindigkeitsinternets an estnischen Schulen, um die Nutzung von digitalen Lehr- und Lernressourcen weiter voranzutreiben. Für die digitale Infrastruktur der Bildungseinrichtungen will die Regierung bis 2022 weitere 8,27 Millionen Euro ausgeben.

Als die Schulen in Estland Mitte März schließen mussten, war das Land weit besser für den digitalen Fernunterricht gerüstet als alle anderen in Europa. Bereits seit 1999 hatte die estnische Regierung die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen konsequent vorangetrieben, alle Schulen an das Internet angeschlossen, mit interaktiven Smartboards, PCs und Tablets ausgestattet, E-Learning-Unterrichtsmaterialien erstellen lassen, Schulbücher digitalisiert und mit eKool ein Schul-Management-System eingeführt, das nicht nur die Schulverwaltung, sondern auch viele Funktionalitäten für Schüler und Eltern umfasst, wie ein digitales Aufgabenheft, Lernmaterialien, Noten- und Leistungsübersicht und mehr. Das Homeschooling gestaltete sich für estnische Familien dadurch deutlich einfacher und effektiver als im Rest von Europa, wo Schulverwaltungen, Schulleiter und Lehrer heilos überfordert plötzlich nach Lösungen für digitalen Unterricht suchten.

Bildungsnähe zeichnet Estland aus

Warum konnten die Esten die digitale Transformation der Klassenzimmer so viel früher erreichen als andere europäischen Länder? Der wohl wichtigste Grund ist, dass in Estland schon immer viel Wert auf Bildung gelegt wurde, was sich auch in den hervorragenden Bildungsergebnissen des Landes wiederspiegelt, zum Beispiel dem sehr guten Abschneiden estnischer Schüler beim PISA-Test. Im Industrieländervergleich der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung ist die estnische Bildungspolitik mit 9 von 10 möglichen Punkten Spitzenreiter.

Für den zweiten Grund muss man wissen, dass Estland ein sehr kleines Land ist mit gerade mal 1,32 Millionen Einwohnern und einer Größe von Niedersachsen. Fehlende Größe macht oft mutig und erfinderisch. Wie alle baltischen Staaten stand Estland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der erreichten Unabhängigkeit vor einem gewaltigen Transformationsprozess. Wie konnte der radikale Umbau zur Marktwirtschaft in dem ressourcenarmen Land gelingen? Die junge estnische Regierung unter dem bei seinem Amtsantritt 1992 erst 32-jährigen Mart Laar setzte alles auf eine Karte: Digitalwirtschaft. Dafür mussten die Bedingungen geschaffen werden – schnell, radikal und konsequent.

Transformation zur hochgradig vernetzten Gesellschaft

Die Esten haben einfach ausprobiert, was mithilfe von Public-Private-Partnerships in der Digitalisierung alles möglich ist. 1997 erklärte die Regierung den kostenlosen Internetzugang zum Grundrecht und trieb in Kooperation mit Unternehmen nicht nur die Anbindung der Schulen an das Netz, sondern auch die Digitalisierung der Lokalverwaltungen und der Regierung voran. Die Vision war eine hochgradig vernetzte Gesellschaft, die durch umfassende Nutzung internetbasierter Dienste immer effizienter wird. Zu den bekanntesten IT-Lösungen, die entstanden sind, gehören elektronische Identitätsnachweise, die zusammen mit elektronischen Unterschriften zur Authentifizierung bei der Nutzung der vielfältigen digitalen Services im öffentlichen und privaten Sektor dienen, sowie ein landesweit einheitliches System für den sicheren Daten- und Informationsaustausch namens X-Road. Laut SGI-Länderbericht nutzen über 900 Unternehmen und Organisationen in Estland X-Road täglich. „X-Road ist auch die erste Datenaustauschplattform der Welt, mit der Daten automatisch zwischen Ländern ausgetauscht werden können.“

Auch in anderen Bereichen hatte die estnische Gesellschaft durch ihren hohen Digitalisierungsgrad deshalb einige Mittel an der Hand, um die Folgen der Corona-Krise zumindest deutlich zu mildern. So haben die Esten schon vor dem Corona-Ausbruch ihre Behördengänge weitgehend online erledigt: Neugeborene anmelden, Autos zulassen, staatliche Hilfen beantragen, Unternehmen gründen, sogar wählen – all das und vieles mehr ist in Estland über das Internet in wenigen Minuten möglich.

Die Soft Power der Digital Governance

Der SGI bewertet ländervergleichend auch die Frage, wie stark die Regierungen der Industrieländer digitale Technologien zur Unterstützung der interministeriellen Koordination nutzen. Auch hier führt Estland das Feld der Nationen mit 10 von 10 möglichen Punkten an. Im SGI-Länderbericht heißt es dazu: „Die estnische Regierung leistete Pionierarbeit beim großflächigen Einsatz von Informationstechnologien. Ein Informationssystem für Gesetzentwürfe (Eelnõude infosüsteem, EIS) wird verwendet, um die Abstimmung der Ministerien untereinander und öffentliche Online-Konsultationen zu erleichtern. Mit EIS können Benutzer Dokumente durchsuchen, die derzeit beraten werden, an öffentlichen Konsultationen teilnehmen und Kommentare zu Gesetzentwürfen abgeben. Gesetzesentwürfe werden der Regierung und dem Parlament per EIS vorgelegt.“

Die Esten sind stolz auf ihre Rolle als Vorreiter in Sachen Digitalisierung und spielen die Soft Power ihrer Digital Governance auf internationaler Ebene gerne aus. In Kooperation mit Finnland (einem weiteren Spitzenland des SGI-Indikators „Digitalisierung der interministeriellen Koordination“) hat Estland das Nordic Institute for Interoperability Solutions gegründet, das die Weiterentwicklung und Verbreitung von X-Road vorantreibt. Inzwischen sind auch die Faröer Inseln und Island der Digitalpartnerschaft beigetreten. Die isländische Regierung arbeitet derzeit an der Einführung von X-Road und auch in Deutschland interessiert man sich im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens inzwischen für das estnische Datenaustauschsystem: Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen führt mit estnischer Unterstützung ein Pilotprojekt für das Ausstellen elektronischer Rezepte in Videosprechstunden des ärztlichen Bereitschaftsdiensts durch.

Der jüngste Clou der estnischen Digitalisierungs-Soft-Power: Der ehemalige estnische Präsident Toomas Hendrik hat auf Einladung der Paneuropäischen Kommission für Gesundheit und nachhaltige Entwicklung der Weltgesundheitsorganisation die Leitung einer Arbeitsgruppe zur Entwicklung von digitalen Strategien und IT-Lösungen für Probleme im Zusammenhang mit Pandemien übernommen. Von der geballten Digitalkompetenz des kleinen baltischen Staates erhofft man sich auch hier, wenn schon keine Wunder, dann wenigstens eine digitale Vision.

Karola Klatt ist Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der SGI News und des BTI Blogs der Bertelsmann Stiftung.