„Das Asiatische Jahrhundert?“

Große Konflikt- und Kooperationspotenziale für Europa

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Der Aufstieg Asiens ist zum stabilisierenden Faktor der Weltwirtschaft geworden, stellt die Weltgemeinschaft aber auch vor große politische Herausforderungen. Um diese produktiv gestalten zu können, ist es dringend erforderlich, sich mit Asien nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch, religiös und kulturell vertieft auseinanderzusetzen.

Der Aufstieg Asiens, der in Europa wirtschaftlich und politisch kontrovers beurteilt wird, zwingt Europa dazu, seinen Eurozentrismus zu überwinden, seine Wirtschaft zu reformieren, eine positive Einstellung gegenüber der Globalisierung, weltweiter Interdependenz und dem Islam zu entwickeln sowie die Rahmenbedingungen für multilaterales Handeln weiter zu verbessern. Mit dieser Einschätzung endete der Salzburger Trilog 2006, zu dem der österreichische Bundeskanzler Dr. Wolfgang  Schüssel und Frau Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, 25 Gäste aus 10 Nationen eingeladen hatten. Die Veranstaltung beleuchtete aus wirtschaftlicher, politischer und kultureller Persepektive die Herausforderungen, die sich für Europa aus dem Aufstieg Asiens ergeben.

Auf der Basis des Bertelsmann Diskussionspapiers "Neue Kräfte in Asien - Rückwirkungen für Europa" wurde in der Diskussion deutlich, dass die Heterogenität der asiatischen Länder und die Gegenläufigkeit verschiedener wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in Asien keine einheitliche Beurteilung des sog. „Asiatischen Jahrhunderts“ zuläßt. In der Debatte zeichneten sich die folgenden Argumentationslinien ab...

"Die wirtschaftliche Zukunft des gesamten asiatischen Raumes wurde übereinstimmend als sehr positiv bewertet (...)"

Die wirtschaftliche Zukunft des gesamten asiatischen Raumes wurde übereinstimmend als sehr positiv bewertet. Peter Sutherland, Vorsitzender von BP und Goldman Sachs, führte aus, dass die Verlagerung komparativer Vorteile nach Asien dramatische Ausmaße angenommen hat. Produktivitätsgewinne von durchschnittlich 4% pro Jahr stellen Europa und Amerika vor große Herausforderungen. Orit Gadiesh, Vorsitzende von Bain & Company, verwies auf den wachsenden Anteil asiatischer Firmen an den Fortune 500 Unternehmen. Es sei nicht zu übersehen, dass europäische und amerikanische Unternehmen zunehmend verdrängt oder aufgekauft würden und ihre Innovationsaktivitäten deutlich verstärken müssten, um ihre komparativen Vorteile weiter halten zu können. Dieser Erfolg und die wachsende Integration Asiens in die Weltwirtschaft hängt nach Dr. Ewald Walgenbach, CEO der Bertelsmann Direct Group, insbesondere mit dem Hunger der asiatischen Bevölkerung nach Bildung, ihrer Leistungsbereitschaft und ihrem Streben nach beruflichem Erfolg zusammen.

„Es ist zu früh, von einem asiatischen Jahrhundert zu sprechen“

Trotz der guten Statistiken wurde insbesondere von den asiatischen Teilnehmern ein differenziertes Bild der Wirtschaftssituation angemahnt. „Es ist zu früh, von einem asiatischen Jahrhundert zu sprechen“, stellte Nand Khemka, Vorsitzender der SUN Group, fest: „Der rasante Aufstieg Indiens erfolgt von einem sehr geringen Ausgangsniveau.“ Der ehemalige chinesische Botschafter in Deutschland, Prof. Mei Zhaorong, verwies darauf, dass das Wirtschaftswachstum pro Kopf noch immer weit hinter westlichen Standards zurückbleibt. Und Botschafter Dr. Delfin Colomé machte deutlich, dass in Asien noch immer 70% der weltweiten Armut beheimatet ist. Prof. Dr. Jürgen Strube, Aufsichtsratsvorsitzender der BASF AG, fasste es wie folgt zusammen: „Man ist gut beraten, die positive Ist-Situation nicht linear in die Zukunft zu extrapolieren.“

„Integration ist Teil der Antwort und nicht Teil des Problems."

Einigkeit bestand jedoch darin, dass die Integration Asiens in die Weltwirtschaft in vielen Sektoren Gewinn für Europa und Asien bedeuten kann und dass die protektionistischen Tendenzen in westlichen Gesellschaften zum Schutz der heimischen Wirtschaft kontraproduktiv sind. Die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber Asien verdankt sich allein dem europäischen Integrationsprozess, argumentierte Peter Sutherland: „Integration ist Teil der Antwort und nicht Teil des Problems. Wenn wir diesen Prozess beschädigen oder aufhalten, wird Europa unfähig sein, die Globalisierung zu gestalten und langfristig Schaden nehmen.“

„Wenn ein Akteur steigt, muss ein anderer eo ipso fallen.“

Demgegenüber wurde die politische Zukunft Asiens und der Asiatisch-Europäischen Beziehungen als ambivalent beurteilt. Prof. Paul Kennedy, Professor für Geschichte und Internationale Sicherheit an der Yale University, führte aus, dass in keiner Epoche der Menschheitsgeschichte große weltwirtschaftliche Veränderungen ohne Folgen für das militärische Gleichgewicht der Mächte blieben. „Die Sprache geopolitscher Strategen kennt kein ´win-win`, sondern nur die Teilhabe an Macht- und Einflusssphären. Wenn ein Akteur steigt, muss ein anderer eo ipso fallen.“ Insbesondere der Anstieg der Militärhaushalte in Asien sowie die regionalen Konflikte geben nach Ansicht von Prof. Paul Kennedy Anlass zur Sorge. Demgegenüber versuchte Botschafter Mei Zhaorong klarzustellen, dass aus chinesischer Sicht nicht der Aufstieg, sondern die friedliche Entwicklung Chinas im Vordergrund stehe. Pascal Lamy, Generalsekretär der Welthandelsorganisation, stellte auf sieben Faktoren ab, die mittelfristig darüber entscheiden werden, ob Asien Teil einer multilateralen Weltordnung sein oder aber den Weg einer rein interessensgeleiteten Machtpolitik beschreiten wird, wie sie Europa seit Mitte des 20. Jahrhunderts mit allen Konsequenzen für überwunden geglaubt hat. Entscheidend seien der Fortschritt der Globalisierung und eine positive Einstellung gegenüber der wachsenden Interdependenz, Fortschritte in der regionalen Integration und Eindämmung regionaler Krisenherde, die Überwindung von Korruption, die Verankerung von Demokratie, die Rolle des Islam, der Einfluss Amerikas sowie der Einfluss Europas.

Der Auftrag für Europa

Dass Europa als Katalysator für die politische Entwicklung Asiens fungieren könne, wurde insbesondere von asiatischer Seite vertreten. So argumentierte Victor Chu, Vorsitzender der First Eastern Investment Group, dass Europa in der regionalen Integration der ASEAN +3 Staaten eine Vorbildrolle übernehmen könne. Der indische Soziologe Prof. Surendra Munshi ergänzte, dass Asien eine „Asian Union“ nach europäischem Vorbild verwirklichen müsse, um die regionalen Krisenherde einzugrenzen. Und Prof. Zhaorong Mei verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass die EU eine stärkere Führungsrolle in den internationalen Beziehungen übernimmt und in Asien größeren Einfluss ausübt. Hinsichtlich der Förderung von Demokratisierung in China schränkte er jedoch ein, dass diese nachhaltig nur von innen wachsen könne, nicht aber von außen durchgesetzt werden dürfe, wenn nicht die politische Stabilität der gesamten Region Schaden nehmen soll.

Für Peter Sutherland und Pascal Lamy lässt sich daraus der Auftrag für Europa ableiten, die Rahmenbedingungen für internationale Kooperationen und multilaterales Handeln auf der Grundlage von Demokratie und Recht weiter auszubauen und dafür einzutreten, dass Asien in den internationalen Organisationen wie IWF, Weltbank und UN- Sicherheitsrat angemessen vertreten ist.

Die kulturelle Dimension des "Asiatischen Jahrhunderts"

Die kulturelle Herausforderung der positiven Entwicklung in Asien wurde insbesondere darin gesehen, wie man gerade im Westen wieder ein positives Bewusstsein für das anbrechende Zeitalter globaler Kooperation und wechselseitiger Abhängigkeiten schaffen könne. Pascal Lamy wies darauf hin, dass das große asiatische Interesse an Europa in einem totalen Missverhältnis zu dem Interesse Europas an Asien steht und forderte dazu auf, sich auf allen Ebenen verstärkt mit Asien auseinanderzusetzen. Nach Ansicht von Ketan Patel, CEO von Greater Pacific Capital, wird das strategische Denken in unserer Zeit den Realitäten der Globalisierung nicht mehr gerecht. Die drängende Frage der Zeit laute nicht, wer verliert oder wer gewinnt, sondern welche Möglichkeiten sich für die Menschheit als Ganzes ergeben. Nach Prof. Surendra Munshi müssen wir uns denn auch für das 21. Jahrhundert fragen, wie wir als Weltbürger und nicht als Europäer, Amerikaner oder Asiaten eine Win-Win-Situation für alle erreichen können. Dazu müsste ein kollektiver Bewusstseinsprozess in Gang gesetzt werden, der darauf ausgerichtet ist, Teilperspektiven durch eine globale Gesamtperspektive zu ersetzen. Für den Städteplaner Prof. Albert Speer und für Victor Chu ist dabei entscheidend, dass wir schon in den Bildungsplänen nationale Perspektiven überwinden und eine globale Vision vermitteln. Und die pakistanische Schriftstellerin Reem Khan legte Wert darauf, dass sich alle Menschen als Teil einer großen, sehr vielfältigen und leider auch sehr entfremdeten Familie verstehen lernen müssen, in der Toleranz gelebt wird und Inklusion an die Stelle von Exklusion tritt. Diese Toleranz sei insbesondere dem Islam gegenüber zu erbringen, zumal nach Prof. Dr. Jürgen Strube der Aufstieg Asiens und die Zukunft Europas eng mit den Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten verknüpft sind. Mit Blick auf den steigenden muslimischen Bevölkerungsanteil in Asien sahen es alle Teilnehmer für wesentlich an, dass der islamistischen Radikalisierung in Asien vorgebeugt werden muss. Vor diesem Hintergrund forderte Peter Sutherland dazu auf, die Vertreter der Religionen in Europa und in Asien verstärkt in den politischen Diskurs mit einzubeziehen.