Menschen sitzen auf einem Podium und im Hintergrund sind Besucher/Zuhörer zu sehen.

Antisemitismus aus muslimischer Perspektive

Vertreter der islamischen Verbände, der jüdischen Gemeinden sowie Experten aus Wissenschaft und Verwaltung trafen sich in Berlin, um das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland zu diskutieren und Lösungsansätze aufzuzeigen.

Die Bertelsmann Stiftung veranstaltete in Kooperation mit dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) am 4. und 5. Dezember 2019 im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz ein Experten-Podium zum Antisemitismus in Deutschland. Rund 60 Teilnehmer diskutierten über das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland, seine Erscheinungsformen sowie mögliche Lösungsstrategien. „Unser Workshop soll einen geschützten Raum bieten, dieses Thema sachorientiert und frei von politischer Instrumentalisierung zu behandeln.“ – mit diesen Worten eröffnete Stephan Vopel, Director des Programms Lebendige Werte bei der Bertelsmann Stiftung, die Veranstaltung.

Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, wies in seinem Grußwort darauf hin, dass im Jahr 2018 rund 1.800 antisemitische Straftaten in Deutschland registriert worden seien – ein Anstieg um 20 Prozent gegenüber 2017. Auch wenn der Großteil dieser Straftaten dem rechtsextremen Milieu zuzuordnen sei, wären unter den Tätern trotzdem überdurchschnittlich häufig Personen muslimischer Prägung. Klein betonte, „dass eine Priorisierung des Kampfes gegen Antisemitismus nach dessen ideologischer Herkunft die gesamtgesellschaftliche Dimension dieser Aufgabe verkennt.“ Dennoch sei es wichtig, so Klein, die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus in den Blick zu nehmen und deren Wechselwirkungen zu verstehen.

Die Perspektive der Betroffenen wurde von Julia Bernstein, Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences, aufgegriffen. Sie zeigte in ihrem Vortrag, dass Antisemitismus heute auf deutschen Schulhöfen allgegenwärtig ist. "'Du Jude' ist heute das häufigste Schimpfwort an deutschen Schulen", sagte Bernstein. Lehrer und Lehrerinnen würden aber häufig antisemitische Ausfälle erst gar nicht erkennen oder sie seien damit überfordert.

'Du Jude' ist heute das häufigste Schimpfwort an deutschen Schulen.

Professorin Julia Bernstein, Universtiy of Applied Sciences Frankfurt

Im Anschluss zeigte Dr. Yasemin El-Menouar, Leiterin des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung, anhand aktueller Umfrageergebnisse, dass die Bereitschaft zum Dialog eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung von Antisemitismus ist. Jedoch seien die sozialen Distanzen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen in Deutschland noch relativ groß, was sich immer wieder als Hürde im Dialog erweisen würde.

Dr. Michael Kiefer von der Universität Osnabrück erklärte in seinem Vortrag, dass erst das Satellitenfernsehen den Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland verbreitet habe. "Erst seit den 2000er Jahren sind Muslime in der Statistik antisemitischer Straftaten zu finden – als mit dem Satellitenfernsehen antiisraelische Propaganda aus dem Nahen Osten in die Wohnzimmer nach Deutschland gekommen ist."

Omar Kamil, Professor an der Universität Erfurt, machte sich für eine historische Perspektive stark, um die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus besser verstehen zu können. So zum Beispiel sei der 8. Mai 1945 in Deutschland mit unterschiedlichen Erinnerungen verknüpft – in alteingesessen-deutscher Perspektive mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in arabisch-migrantischer Perspektive hingegen eher mit den kolonialen Verbrechen europäischer Staaten. Insofern sei es zu einer Art "Leid-Konkurrenz" gekommen, die bis zur Leugnung des Holocaust führen könne. "Wir müssen die gegenläufigen Narrative verknüpfen und dabei auch die Erinnerungen von Migranten anerkennen", sagte Kamil. "Wir brauchen ein neues Denken, dass unterschiedlichen Erfahrungen Raum bietet.“

Am zweiten Workshoptag wurden verschiedene Initiativen vorgestellt, die zeigen, dass es geteilte Erfahrungsräume in Deutschland durchaus schon gibt. Beispiele sind "Schalom Aleikum", eine Initiative des Zentralrats der Juden, und das Projekt "Junge Muslime in Ausschwitz" von HeRoes Duisburg. Auch der Workshop der Bertelsmann Stiftung und des Bundesministeriums des Innern hatte letztlich zum Ziel, einen neuen Begegnungsraum zu schaffen. Alle Teilnehmer der Veranstaltung waren sich am Ende einig, dass dies in den zwei Tagen gut gelungen ist.