Am 4. November 2019 hat unsere Konferenz "Braucht Deutschland mehr Choosing Wisely?" in Berlin stattgefunden. Wir sind den Spuren der medizinischen Überversorgung gefolgt und haben Choosing Wisely als ärztegeführte Gegenbewegung vorgestellt. Verantwortliche aus Kanada, Neuseeland, den Niederlanden und Deutschland haben über ihre Erfahrungen und Erfolge mit Choosing Wisely berichtet. Wir haben diese mit gesundheitspolitischen und medizinischen Fachleuten, Entscheidungsträgern und internationalen Experten lebhaft diskutiert.
Internationale Ärzteinitiative geht gegen Überversorgung vor
Choosing Wisely ist eine 2011 in den USA gestartete Initiative, mit dem Ziel, unnötige medizinische Leistungen zu reduzieren. Wir zeigen auf, was die Bewegung international so erfolgreich macht.
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Choosing Wisely-Konferenz am 4.11.2019
Zu schnelles Röntgen bei Rückenschmerzen, zu viele Antibiotikaverschreibungen – Verschwendung im Gesundheitswesen stellt auch in Deutschland ein großes Problem dar. Überversorgung hat viele Ursachen und ist entsprechend schwierig einzudämmen. Mit der Choosing-Wisely-Kampagne haben Ärzte in den USA eine Initiative gegen Überversorgung gestartet. Und diese hat international schnell Zuspruch gefunden.
Choosing Wisely – auf Deutsch meist mit „klug entscheiden“ übersetzt – macht auf medizinische Leistungen aufmerksam, die mehr schaden als nutzen können. Die 2011 ins Leben gerufene Kampagne ist so erfolgreich, dass sie sich rund um den Globus verbreitet hat. Die Bertelsmann Stiftung hat untersucht, woran das liegt und was die Initiative auszeichnet. Dazu hat die britische Versorgungsforscherin Dr. Angela Coulter in einer Studie die Eigenschaften und Wirkungen der unterschiedlichen Initiativen zusammengetragen und Ableitungen für Deutschland getroffen. Darüber hinaus sprachen wir mit Prof. Dr. Wendy Levinson, der Koordinatorin des internationalen Choosing-Wisely-Netzwerks über Ziele, Hürden und Erfolgsfaktoren der Bewegung.
Überflüssige Leistungen in Deutschland
Sowohl Ärzte als auch Patienten sehen Überversorgung auch in Deutschland als Problem. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung glaubt, dass medizinisch überflüssige Leistungen nicht nur gelegentlich, sondern oft oder sehr oft in deutschen Arztpraxen vorkommen. Von mehr als 4.000 von ihrer Fachgesellschaft befragten Internisten halten über die Hälfte Überversorgung für ein großes bis sehr großes Problem im Gesundheitssystem, während sie Unterversorgung mehrheitlich als kein bzw. geringes Problem erachten.
Top-5-Listen zur Überversorgung
Kernelement von Choosing Wisely sind von den medizinischen Fachgesellschaften entwickelte Top-5-Listen von Leistungen, die lieber unterlassen bzw. von Ärzten und Patienten noch mal hinterfragt werden sollten. Die Empfehlungen sollen evidenzbasiert sein, d.h. sie sollen nachgewiesenermaßen für Patienten kaum Vorteile bringen oder sogar Schaden verursachen können. Die Fachgesellschaften legen selber fest, welche fünf Leistungen in die Top-5-Liste ihrer Disziplin aufgenommen werden. Sie gehen dabei methodisch durchaus unterschiedlich vor, beispielsweise bei der Frage, wie sie die Ärzte aus ihrer Gesellschaft bei der Auswahl und Festlegung der Top-5-Liste beteiligen. Die Verantwortung liegt also ganz bei der einzelnen Fachgesellschaft – und gerade dieser Bottom-up-Prozess motiviert die Ärzte und macht die Kampagne in den verschiedenen Ländern so erfolgreich. In Kanada haben alle medizinischen Fachgesellschaften innerhalb von nur zwei Jahren Top-5-Listen erstellt, die von Patientenorganisationen unterstützt und mitgetragen werden.
Choosing Wisely will Kulturwandel: Weniger ist mehr
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die grundsätzliche Herangehensweise an Choosing Wisely. "Wie in jedem anderen Land ist es auch in Deutschland wichtig, Choosing Wisely als Bottom-up-Initiative und als Kampagne zu gestalten und die Botschaft kurz zu halten." Levinson betont, es gehe um den Dialog zwischen Ärzten und Patienten. Sie sollen besser miteinander ins Gespräch kommen, damit sie Entscheidungen wirklich gemeinsam treffen. Ziel ist es, einen Kulturwandel anzustoßen, dass in der medizinischen Versorgung weniger manchmal mehr ist.
Das Interview mit Prof. Levinson mit Antworten zu Zielen, Hürden und Erfolgsfaktoren sowie die Ergebnisse der Studie „Choosing Wisely – von Initiativen in anderen Ländern lernen“ der britische Versorgungsforscherin Angela Coulter finden Sie in unserem aktuellen "SPOTLIGHT Gesundheit". Die Studie gibt es zum kostenlosen Download.
Zudem finden Sie nebenstehend das ins Deutsche übersetzte „Choosing Wisely Starter Kit“, entwickelt vom Internationalen Choosing Wisely Netzwerk. Dieser „Leitfaden für Ihre Choosing Wisely Kampagne“ beschreibt die grundlegenden Prinzipien von Choosing Wisely, erläutert die wichtigsten Schritte zur Einführung von Choosing Wisely und enthält wertvolle Literaturhinweise und Kontaktdaten.